See der Schatten - Kriminalroman (German Edition)
die über sie und Ryan inzwischen mit Sicherheit im Umlauf waren, wollte sie auch nicht unnötig anheizen. Hank Friday hatte ihr auch so schon den Zimmerschlüssel mit einem anzüglichen Grinsen über den Tresen geschoben.
In der Nacht hatte sie noch lange wach gelegen. Immer wieder hatte sie die splitternde Scheibe und den Pflasterstein mit der unmissverständlichen Botschaft vor Augen gehabt. Doch im Laufe der Stunden hatte sich das Gefühl der Hilflosigkeit in Wut verwandelt, und sie hatte beschlossen, den Steinewerfer anzuzeigen.
Jetzt, nur noch ein paar Schritte von der Polizeistation entfernt, kamen ihr aber wieder Zweifel. War es richtig, eine offizielle Anzeige zu erstatten? Und wie viel von ihrem Verdacht sollte sie preisgeben?
Ryan hatte zwar den Verdacht geäußert, der Mörder der drei Frauen hätte sich von ihnen bedrängt gefühlt und den Stein geworfen. Aber sie war da nicht so sicher. Wäre es wirklich so gewesen, hätte er dann nicht zu extremeren Mitteln gegriffen als zu einem Pflasterstein und einem Zettel?
Außerdem bestand ja auch noch die Möglichkeit, dass einer der Einwohner aus dem Ort den Stein geworfen hatte, der auf sie nicht gut zu sprechen war. Ihr fiel die Szene ein, die Joannas Mutter ihr im Laden gemacht hatte. Wendy Miller traute sie einen Steinwurf zwar nicht zu, aber vielleicht hatte jemand, der ihr nahestand, auf eigene Faust gehandelt. Wenn sich das als wahr herausstellte, würde sie sich mit ihren Anschuldigungen total lächerlich machen.
Nachdenklich blieb sie einen Augenblick stehen. Dann zuckte sie die Achseln. Was soll` s, dachte sie bei sich. In Shadow Lake halten mich doch sowieso alle schon für verrückt, schon allein deswegen, weil ich Ellen Hennesseys Nichte bin. Da kann ich ruhig noch einen drauflegen.
Entschlossen betrat sie das Büro des Sheriffs. Sie hatte befürchtet, dass eine Welle von schlechten Erinnerungen über sie hereinbrechen würde. Nach dem Mord an Joanna war sie mehrere Male hier gewesen, um die immer wieder gleichen Fragen zu beantworten. Stundenlang hatte sie damals wie betäubt im Verhörraum gesessen. Trotzdem erinnerte sie sich noch an jedes Detail der Einrichtung.
Aber das Büro war kaum wiederzuerkennen. Die Räume waren grundlegend renoviert und mit neuen Möbeln ausgestattet worden. Auch den Deputy, der im hinteren Teil des großen Raums an einem Schreibtisch saß und im Zwei-Finger-Suchsystem einen Bericht tippte, kannte sie nicht. Nur das maskenhafte Lächeln von Ruth Montgomery und die viel zu kalt eingestellte Klimaanlage erinnerten sie an früher.
»Ach, hallo Tess. Da bist du ja. Wir haben schon gehört, dass du wieder im Ort bist«, sagte Ruth zur Begrüßung, wobei sich ihre Mimik keinen Millimeter veränderte. »Wie geht es dir?«
»Hallo Ruth«, sagte Tess kühl, ging aber nicht weiter auf ihre Frage ein. Es war ohnehin nur eine reine Höflichkeitsfloskel gewesen. »Ich muss mit dem Sheriff sprechen.«
»Natürlich. Du hast sicherlich einen sehr wichtigen Anlass«, sagte Ruth in sarkastischem Tonfall. Sie seufzte und begab sich betont langsam zur benachbarten Tür, die in das Zimmer des Sheriffs führte.
Während sie ihren Kopf durch die Tür steckte und leise mit dem Sheriff sprach, stöhnte Tess leise auf und verdrehte die Augen. Sie hatte Ruth noch nie gemocht, und die gegenseitige Abneigung hatte sich im Lauf der Jahre kein bisschen vermindert. Als sie jedoch bemerkte, dass der Deputy aufgehört hatte, an seinem Bericht zu arbeiten und sie stattdessen amüsiert beobachtete, fühlte sie sich ertappt. Verlegen wandte sie den Blick ab.
Ohne ein weiteres Wort kehrte Ruth an ihren Platz zurück und tat demonstrativ beschäftigt. Für Tess hatte sie nicht einmal mehr einen kurzen Seitenblick übrig.
Kurz darauf öffnete sich die Tür und Sheriff Marcks kam auf Tess zu. Er hatte sich in den letzten sieben Jahren kaum verändert. Nur das braune, leicht gelockte Haar lichtete sich an einigen Stellen merklich. Aber bestimmt passt er immer noch in genau die gleiche Uniformgröße wie früher, dachte Tess mit einem Blick auf seinen durchtrainierten Oberkörper. Vor dem Mord an Joanna hatten sie und ihre Freundinnen sich oft über die übertriebene Eitelkeit des Sheriffs lustig gemacht.
»Na sieh mal einer an, wenn das nicht Tess Hennessey ist. Was kann ich für dich tun?«, polterte der Sheriff und hielt Tess zur Begrüßung die Hand hin. Tess ergriff sie und zwang sich zu einem höflichen Lächeln.
»Hallo Sheriff Marcks«,
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