See der Schatten - Kriminalroman (German Edition)
wohl eher fragen wollen, was Tess überhaupt vorhatte, aber so direkt traute sie sich wahrscheinlich nicht. »Ja, es geht voran«, antwortete sie deshalb vage. Sie wollte nicht unhöflich sein, aber auch nicht mehr verraten als notwendig.
Mrs Pretzky musterte sie nachdenklich. Als Tess schon begann, sich zu fragen, was sie jetzt von ihr erwartete, sagte die alte Frau leise: »Du hast dich doch für die Frauen interessiert, die in Shadow Lake ums Leben gekommen sind. Ich habe da heute was reinbekommen, was du dir in diesem Zusammenhang vielleicht auch mal ansehen solltest.«
Umständlich kramte sie in einem Stapel Papiere, die in ihrem Postkorb lagen. Schließlich zog sie ein paar Blätter hervor.
»Drüben in der Nähe von Medford haben zwei Teenager eine Mädchenleiche gefunden«, erklärte sie. »Die Polizei hat zwar ihren Namen feststellen können – sie hieß Cristina Gomez und war siebzehn Jahre alt – aber ansonsten gibt es wohl kaum Hinweise, was mit dem Mädchen passiert sein könnte. Deshalb sollen wir ein Foto von ihr veröffentlichen und nach Zeugen suchen. Wenn jemand sie gesehen hat, soll er sich beim Sheriff des Bezirks melden.«
Sie schob Tess ein Blatt Papier zu. Darauf war das Gesicht eines Mädchens zu sehen. Sie hatte die Augen geschlossen und die Haut hatte eine unnatürliche Farbe. Tess bekam beim Anblick der Toten eine Gänsehaut. Sofort kam die Erinnerung an die Bilder aus Joannas Mordakte ihr wieder in den Sinn, doch sie versuchte, sie so gut wie möglich zu verdrängen. Stattdessen konzentrierte sie sich wieder auf das Foto, das vor ihr lag.
Das Mädchen war hübsch gewesen, auch wenn das merkwürdig geschnittene Haar – eine Seite kurz und rot, die andere schwarz und lang – einen fast schon absurden Kontrast zu den ebenmäßigen Gesichtszügen bildete. Tess war sich sicher, dieses Gesicht noch nie vorher gesehen zu haben. Sie schüttelte den Kopf und gab Mrs Pretzky das Blatt Papier zurück. »Ich kenne sie nicht«, sagte sie knapp.
Die alte Frau nickte, dann schob sie ein weiteres Blatt in Tess` Richtung.
»Das war leider noch nicht alles«, berichtete sie weiter. Die Polizei hat die Umgebung des Fundortes abgesucht. Und dabei haben sie noch eine Leiche gefunden.« Ihr Ton klang beiläufig, aber an ihren zitternden Fingern erkannte Tess, dass die Neuigkeiten sie nicht kaltgelassen hatten.
Tess nahm das Papier und betrachtete es. Dann runzelte sie die Stirn. Auf dem Blatt, das sie in den Händen hielt, waren nur die Fotos von ein paar Gegenständen abgebildet, aber kein Gesicht.
Mrs Pretzky bemerkte ihre Verwunderung und fuhr mit ihrer Erklärung fort: »Die Leiche hat wohl schon etwas länger da gelegen, deshalb war nicht mehr allzu viel von ihr übrig. Die Fotos sind von den persönlichen Gegenständen, die sie bei sich hatte. Vielleicht erkennt jemand etwas davon und kann einen Hinweis geben, wer die Tote sein könnte.«
Tess nickte und betrachtete die Bilder. Viel war es nicht. Ein Lippenstift von einer eher billigen Marke, eine ziemlich vermoderte Ledertasche mit geflochtenem Riemen, ein Paar Turnschuhe, deren Farbe kaum noch zu erkennen war und eine rote Plastikhaarbürste. Es waren alles Allerweltssachen, die nicht weiter auffielen. Tess bezweifelte, dass jemand etwas davon wiedererkennen würde.
Als ihr Blick allerdings auf das letzte Foto rechts unten in der Ecke fiel, stockte ihr der Atem. Entsetzt schlug sie die Hand vor den Mund und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf das Bild.
Es zeigte ein zierliches Armband aus schwarz angelaufenem Silber, an dem kleine Kügelchen und in Sternform geschliffene Türkise hingen. Tess hatte das Gefühl, ihre Beine könnten jeden Moment unter ihr wegsacken. Krampfhaft hielt sie sich mit einer Hand an der Tischplatte fest.
»Was ist denn, Tess?« Mrs Pretzky legte ihr sanft die Hand auf den Arm. Ihr faltiges Gesicht drückte echte Besorgnis aus »Geht es dir nicht gut?«
»Oh mein Gott«, flüsterte Tess tonlos. »Es ist Millie. Sie haben Millie Walls gefunden.«
36. Kapitel
Wie betäubt lief Tess die Straße hinunter. Alles um sie herum schien sich zu drehen. Sie konnte es immer noch nicht fassen, was sie eben im Redaktionsbüro der Shadow Lake Gazette erfahren hatte.
Seitdem sie zum ersten Mal Millies Namen auf der Liste ihrer Tante gelesen hatte, war sie zwar schon davon ausgegangen, dass ihrer Schulfreundin etwas zugestoßen sein könnte. Aber sie hatte immer noch geglaubt, dass sich ihre Tante in diesem Fall
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