Seegrund
rankten. Bei einem seiner letzten Fälle hatte er es mit geheimnisvollen Morden zu tun gehabt, bei denen Sagenmotive eine zentrale Rolle spielten. Die Frau eines Richters, die sich nebenbei als Heimatforscherin intensiv mit den regionalen Mythen befasst hatte, war darin maßgeblich verwickelt gewesen. Kluftinger dachte nach. Konnte er das tun? Aber was sollte er machen? Wen sollte er fragen, wenn nicht sie? Der Kommissar atmete tief durch, fasste sich ein Herz und nahm den Telefonhörer ab. »Sandy, verbinden Sie mich bitte mit der JVA. Verlangen Sie am besten gleich die Anstaltsleitung. Danke! Und wenn Sie mir dann noch einen Kaffee hätten …«
Der Kommissar schnäuzte herzhaft in sein Stofftaschentuch. Ihm war mulmig zumute. Und das aus mehreren Gründen. Er gehörte zu den Beamten, für die ein Fall nach der Aufklärung abgeschlossen war. Er übergab dann die volle Verantwortung an die Justiz. So schrieb es das System vor. Und sein Vertrauen in dieses System war auch nach jahrzehntelanger Arbeit ungebrochen. Nicht etwa, weil er noch nie von Justizirrtümern, Korruption und Fehlurteilen gehört hätte. Aber die Gewaltenteilung war für ihn ein hohes Gut. Er hatte die Verbrecher zu schnappen, für die Bestrafung sorgten andere. So lautete die Regel.
Natürlich musste er oft vor Gericht zu seinen Ermittlungen als Zeuge oder Sachverständiger aussagen, er vermied es aber, bis zur Urteilsverkündung zu bleiben. Dahinter steckte die heimliche Angst, mit den Folgen seiner Arbeit konfrontiert zu werden. Er konnte und wollte sich die Verantwortung für lange Haftstrafen nicht aufhalsen, auch wenn es sich um Kapitalverbrechen handelte. Er vermied es auch, moralische Urteile über die Menschen zu fällen, für deren Verhaftung er gesorgt hatte. Das war nach seinem Selbstverständnis nicht seine Aufgabe. Er versuchte, durch das bewusste Abschließen des Falles mit der Übergabe der Akten an die Staatsanwaltschaft, auch für sich selbst einen Abschluss zu finden. Er las deswegen auch nie etwas über die Verhandlungen in der Zeitung.
Und nun sollte er von sich aus diese Frau, die er letztendlich hinter Gitter gebracht hatte, um einen Gefallen bitten? Auf einmal kam ihm die Idee gar nicht mehr so gut vor. Er wollte gerade Sandy Bescheid sagen, dass sie mit dem Anruf noch warten solle, da klingelte sein Telefon. Vom Leiter der Justizvollzugsanstalt Kempten erfuhr Kluftinger, dass Frau Urban, so hieß sie, jederzeit vernommen werden könne. Als er auflegte, war er sich nicht sicher, ob es ihm nicht lieber gewesen wäre, wenn er eine Absage bekommen hätte.
Schon um Viertel vor drei steuerte Kluftinger seinen Wagen auf den tief verschneiten Besucherparkplatz der Justizvollzugsanstalt. Er kannte das neue Gefängnis von einer kuriosen Fortbildung, an der er kurz vor der Inbetriebnahme teilgenommen hatte: Zusammen mit einigen Journalisten hatten sich mehrere Kripobeamte dort einschließen lassen, um eine Nacht und einen Tag Gefängnisluft unter »Realbedingungen« zu schnuppern. Seitdem enthielt er sich auch eines Urteils über die von außen betrachtet scheinbar so »angenehmen« Haftbedingungen.
Auf dem Weg zum Eingang wurde ihm flau im Magen, was nicht an der doppelten Portion Krautschupfnudeln oder an den zwei Tassen heißem Most lag, die Kluftinger am Mittag zusammen mit Willi Renn auf dem Weihnachtsmarkt zu sich genommen hatte. Nachdem er dem Pförtner trotz seines seit zwei Wochen abgelaufenen Dienstausweises – im Januar wurde sowieso auf Chipkarten umgestellt – hatte glaubhaft machen können, dass er Kriminalkommissar war, wurde er von einem Justizbeamten in das Büro des Anstaltsleiters gebracht. Frau Urban sei eine sehr ruhige, zurückhaltende Gefangene, die durch ihren Intellekt, ihre Hilfsbereitschaft und ihr Engagement auf religiöser und kultureller Ebene – sie arbeitete in der Frauenbibliothek – auffiel, teilte der Anstaltsleiter ihm mit.
Auch wenn ihn die Worte des Direktors ein wenig beruhigt hatten, saß er wenig später doch mit sehr gemischten Gefühlen in einem kleinen, überheizten Vernehmungszimmer ohne Fenster. Nur an der Decke fanden sich einige Oberlichter.
Wie würde ihm Frau Urban gegenübertreten? Auf einmal kamen die Erinnerungen an ihren Fall wieder hoch. Aus religiösem Wahn, aus einem pervertierten Gerechtigkeitstrieb heraus hatte Frau Urban damals ihren Sohn, geistig beschränkt und kaum Herr seiner selbst, zum Mörder gemacht. Zum Racheengel. Sie und ihr Mann hatten einen geradezu
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