Seegrund
biologischen Besonderheiten sein. Zu den seltenen Purpurbakterien kommt eine weitere Absonderlichkeit: Wenn Sie sich die Bäume am Ufer ansehen, werden Sie feststellen, dass sich die Äste in ihrem Wuchs winden und drehen, als hätten sie der Schwerkraft und den Naturgesetzen nicht zu gehorchen. Ich sage Ihnen, wenn Sie abends im Mondschein da oben sind, da wird es Ihnen ganz anders. Das sieht aus wie ein verwunschener Ort. Man erklärt es sich wissenschaftlich mit den Fallwinden im trichterförmig zulaufenden Tal. Für weniger rational eingestellte Gemüter liegt eine metaphysische Deutung nahe. Oder eben die Mythen, die sich um den See ranken. Da gibt es den Schlüsselmönch vom Faulenbach, der da oben spuken soll. In den Fünfzigern habe man ihn mehrmals gesehen, erzählt man sich. Und die Legende, dass sich der See trichterförmig nach unten verjüngt und sich dann in unendliche, tiefe Labyrinthe verliert, in denen unaussprechlich grausame Gestalten hausen. Diese Gerüchte haben durch die zugegebenermaßen manchmal recht rätselhaften Todesfälle in und um den See neue Nahrung gefunden. Ich hoffe, der Fall, den Sie da untersuchen, trägt nicht ebenso dazu bei. Aber wie gesagt: In diesen Dingen kenne ich mich zu wenig aus, wirklich. Kennen Sie den Schamanen, der fast immer oben am See ist? Der weiß da vielleicht mehr.«
Kluftinger verdrehte die Augen und winkte ab: »Allerdings! Aber Sie sagten noch etwas von der Geschichte des Sees. Könnte da ein Grund zu suchen sein?«
Steinle antwortete erst, als seine inzwischen erloschene Pfeife wieder brannte. »Ist schon möglich, wenn jemand von diesem Gedanken besessen ist. Man geht davon aus, dass der See bei den Kelten Kultstätte war. Offenbar weil er als Eingang zur Unterwelt angesehen wurde. Das lag sicher auch an den starken Schwefelgerüchen im Faulenbacher Tal.«
»Das Tal hat sozusagen einen sprechenden Namen.«
»Sozusagen. Waren Sie schon einmal dort? Das Tal gleicht eher einer Kraterlandschaft. Und das hat ebenfalls mit der Geschichte zu tun.«
»Bombentrichter?«
»Nein, Herr Kluftinger. Im Tal gibt es riesige Gipsvorkommen. Nun brauchte man hier wie überhaupt in Süddeutschland gerade im Zeitalter des Barock für die Stuckornamente in Kirchen, Klöstern und Schlössern Unmengen von Gips. Raten Sie mal, woher das Material für den Schmuck in der Lorenzkirche und der Residenz in Kempten, in der Wieskirche und in der Birnau stammt? Genau, vom Alatsee.
Und diese Gipsvorkommen sorgen auch für den Gestank. Und für unsere Purpurbakterien. Jedenfalls nehmen wir das an. Genaueres sollen die Forschungen ergeben.«
Kluftinger war voll konzentriert. Er wusste noch nicht, ob ihm das alles weiterhalf, endlich aber erfuhr er Dinge, an die sich möglicherweise anknüpfen ließ. »Aber noch mal wegen der Geschichte: Besiedelt wurden die Ufer des Sees ja nie richtig, oder?«
»Nein, da haben Sie Recht, Herr Kluftinger. Die Menschen mieden den See. Wenn man sich vorstellt, wie es hier oben gewesen sein musste – im Winter, ohne künstliches Licht, dann kann man das verstehen. In den zwanziger Jahren wurde ein Gasthaus mit Hotel gebaut, das zuerst nicht recht lief und das sich dann, so erzählt man, bei der Führungsriege des Dritten Reichs großer Beliebtheit erfreute.«
Kluftinger wurde hellhörig. »Wie kam es dazu?«
»Da bin auch ich überfragt. Es gibt keine genauen Aufzeichnungen über die Zeit und die Aktivitäten am See. Im Krieg jedenfalls war das Gebiet dort oben hermetisch abgeriegelt, was – inoffiziellen Angaben zufolge – einige Einheimische sogar mit ihrem Leben bezahlen mussten. Über diese ganze Geschichte finden sich in der offiziellen Füssener Stadtchronik übrigens lediglich zwei Zeilen. Über diese Zeit schweigt man nach wie vor lieber.«
»Und man weiß nicht, was genau damals vor sich ging?«
»Nein, es gibt nur vage Hinweise. Es sollen Schüsse gefallen sein, Explosionen sollen stattgefunden haben.«
»Vielen Dank, Sie haben mir sehr geholfen«, beendete Kluftinger ihre Unterredung. Auch wenn er nicht genau wusste, in welcher Hinsicht, hatte er doch das Gefühl, einen entscheidenden Schritt vorangekommen zu sein.
Den Nachmittag hatte Kluftinger in aller Ruhe im Büro verbracht. Nachdem ihm Günther Steinle so viele Punkte gegeben hatte, an die er nun anknüpfen musste, brauchte er einen Kaffee und seine vertraute Umgebung. Was ihn im Moment am meisten beschäftigte, war die Sache mit den Mythen und Sagen, die sich um den Alatsee
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