Seegrund
vergessen.«
Frau Urban nahm einen Schluck aus dem Plastikbecher, der auf dem Tisch stand, und sprach dann weiter. »Dort oben gab es immer wieder Tauchunfälle. Gott weiß, was die Menschen dort gesucht haben. Vielleicht diesen Schatz? Wahrscheinlich gibt es völlig logische Erklärungen für die Vorfälle. Viele alte Leute aber sagen, das habe alles nur mit den Venedigermännlein zu tun.«
Der Kommissar blickte eine Weile vor sich hin. Eine längere Pause entstand. Frau Urban sagte nichts mehr. Kluftinger sah zu ihr und nahm etwas Sonderbares wahr: Sie saß nun mit gesenktem Kopf da, biss sich auf die Unterlippe und schien leicht zu zittern.
»Frau Urban?«
Ihr Kopf hob sich und ihre Augen hatten wieder jenen unbewegten, leblosen Ausdruck.
»Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe«, sagte Kluftinger rasch. »Falls es noch Fragen gibt, würde ich gern auf Sie zurückkommen.«
»Gut«, hob die Frau mit stählerner, völlig veränderter Stimme an, »ich bin ein Werkzeug des Herrn, das der Gerechtigkeit zum Sieg verhilft.«
Er reichte ihr die Hand zum Abschied, sie aber ließ ihre Rechte wie während des ganzen Gesprächs auf ihrem Schoß liegen.
»Also, sagen Sie einen Gruß an Ihre Familie«, versuchte es der Kommissar mit einem heiteren Abschied und bemerkte erst, nachdem der Satz seine Lippen verlassen hatte, wie absurd das klingen musste: Ihr Mann saß ebenfalls ein, ihr Sohn war in der geschlossenen Abteilung der forensischen Psychiatrie untergebracht, wie ihm der Anstaltsleiter vorhin mitgeteilt hatte.
Frau Urban überhörte seinen Abschiedsgruß einfach. Sie erhob sich aus ihrem Stuhl, stützte sich auf dem Tisch auf und lehnte sich zu Kluftinger hinüber. »Mein ist die Rache, spricht der Herr!«, flüsterte sie. »Ich würde all das wieder tun, was ich getan habe. Ich hege keinen Groll gegen Sie. Sie sind nur ein Werkzeug der irdischen Macht. Gehen Sie mit Gott!«
Kluftinger lief es eiskalt den Rücken hinunter.
In der Sekunde, in der er das Gefängnis verließ, verschwand auch das Gefühl der Beklommenheit, das in dem Gebäude auf ihm gelastet hatte. Die kalte Luft tat ihm gut, doch er hatte keine Zeit, richtig durchzuatmen, denn sein Handy klingelte. Es war Maier, der ihm sagte, dass die Eltern des verletzten Studenten in Kempten eingetroffen waren. Maier war unterwegs, um sie am Bahnhof abzuholen. Kluftinger verabredete sich mit ihnen vor dem Krankenhaus. Gleich im Anschluss würde er sie dort treffen.
Auf dem Weg dorthin fragte sich der Kommissar, was er ihnen sagen sollte. Er wusste selbst noch so wenig. Aber vielleicht würden sie ja etwas Licht ins Dunkel bringen. Er ahnte noch nicht, dass genau das Gegenteil passieren würde.
»So, das ist also der Herr Kluftinger. Herr und Frau Bühler.« Maier schien froh zu sein, dass sein Chef zu ihnen gestoßen war. Psychologische Betreuung von Opfern, Zeugen oder Angehörigen gehörte nicht gerade zu seinen Stärken und die Hilflosigkeit, die Kluftinger im Gesicht der Mutter las, bestätigte das.
Das Erste, was ihm auffiel, war das recht fortgeschrittene Alter der Eltern. Sie waren gut und gerne um die siebzig. Beide waren bieder gekleidet und wirkten sehr nervös.
»Wie geht es denn unserem Jungen?«, fragte die Frau und kaute an ihrer Unterlippe. Unser Junge – so wurde Kluftinger von seiner Mutter auch genannt.
»Ich weiß es nicht genau, tut mir leid. Alles, worüber ich informiert bin, ist, dass er noch immer im Koma liegt. Aber sein Zustand scheint stabil zu sein.«
»Wir haben schon wochenlang nichts mehr von ihm gehört. Das ist schon sehr ungewöhnlich. Er ist ja in der Stadt beim Studium, da meldet er sich öfters nicht. Und er will halt nicht, dass wir oft anrufen. Er denkt wohl, wir wollen ihn kontrollieren. Ich habe diesmal wirklich angefangen, mir Sorgen zu machen, und jetzt das …« Ihre Stimme wurde schwach und ihr Mann legte seinen Arm um sie. Auch er hatte Tränen in den Augen. Kluftinger fühlte sich sehr unwohl, wollte das Ganze schnell hinter sich bringen.
Sie sprachen nicht, als sie die Klinik betraten. Es war eine drückende Stille. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Zwar hofften alle, dass der junge Mann bald wieder zu sich kommen würde, aber die Motive der Polizisten unterschieden sich grundlegend von denen der Eltern. Für Kluftinger wäre dieser undurchschaubare Fall wahrscheinlich innerhalb kürzester Zeit aufgeklärt, wenn der Student aufwachen und erzählen würde, was er in dem See gesucht, wer ihm den Schlag
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