Seegrund
versetzt und vor allem was das Zeichen zu bedeuten hatte.
Vor der Intensivstation begegneten sie dem Arzt, der den Eltern, mit einigen Fachbegriffen angereichert, Kluftingers Worte von vorhin bestätigte. Dann wies er ihnen den Weg zum Zimmer des Studenten und ließ nach einem kurzen Disput auch den Kommissar mitgehen. Nur Maier musste draußen warten.
»Bitte machen Sie sich darauf gefasst, dass Ihr Sohn schlimm aussieht«, flüsterte Kluftinger, als er die Hand auf die Türklinke legte. Die Mutter blickte ihn erschrocken an. »Schlimmer als es ist, meine ich«, fügte er schnell hinzu. »Mit den ganzen Apparaten und so.« Dann drückte er die Klinke hinunter. Die Tür schwang auf und die drei traten ein. Außer dem Klacken ihrer Absätze erfüllte nur das rhythmische Piepsen des Herzmonitors das Zimmer.
Kluftinger hielt sich im Hintergrund, er wollte den Eltern etwas Raum für die erste Begegnung mit ihrem Sohn geben. Ein paar Sekunden standen sie nur da und starrten auf den leblos wirkenden Körper vor ihnen. Um den Kopf war ein dicker Verband geschlungen, die Augen lagen tief in blutunterlaufenen Höhlen. Nase, Brust und Arme waren durch Kabel und Schläuche mit irgendwelchen Apparaturen verbunden.
Jetzt bewegten sich die Eltern wieder. Sie blickten sich an und sahen sich dann im Raum um.
Kluftinger runzelte die Stirn. Das hatte er nicht erwartet. Er hatte damit gerechnet, dass sie vielleicht in Tränen ausbrechen würden, auch einen kleinen Schwächeanfall hatte er einkalkuliert, aber dass sie sich für die Zimmereinrichtung interessierten, hätte er nicht gedacht. Nachdem Herr und Frau Bühler sich einmal um die eigene Achse gedreht hatten, schauten sie ihn an.
»Ist … ist irgendwas?«, fragte er unsicher.
Wortlos starrten sie den Kommissar an.
»Ja, schlimm …«, brachte Kluftinger heraus, bevor Herr Bühler ihm ins Wort fiel.
»Soll das ein schlechter Scherz sein?«, fragte der Mann und seine Stimme klang nun gar nicht mehr zerbrechlich, vielmehr kampfeslustig und ärgerlich.
Kluftinger hatte keine Ahnung, worauf er hinaus wollte. Hatte sie der Anblick so sehr schockiert? Waren sie mit dem Standard des Krankenhauses nicht zufrieden?
»Ihr Sohn wird bestimmt wieder gesund. Die Ärzte hier tun ihr Möglichstes.«
Der Satz, den der Mann dann sagte, traf ihn wie ein Vorschlaghammer: »Das ist nicht unser Sohn!«
22. September 1993
Als der fette Mann mit den verschwitzten Oberarmen die Maschine anwarf und sich das Gerät in seiner Hand surrend in Bewegung setzte, kamen ihm für einen kurzen Moment Zweifel an seiner Entscheidung. Er hatte gehört, dass es schmerzhaft sein würde, gerade am Schulterblatt. Doch sein Vater hatte nicht zugelassen, dass er sich die Tätowierung an einen anderen Körperteil stechen ließ. Sein Vater! Er wandte den Kopf und sah ihn an. Hier, auf der Pritsche liegend, mit nacktem Oberkörper, fühlte er sich so hilflos wie als Kind. Auch damals hatte er oft zu seinem Vater gesehen, doch der hatte ihm nie geholfen. Immer nur von Durchhaltevermögen und Härte gepredigt. Jetzt wollte er ihm beweisen, dass er hart war. Eine Tätowierung hatte keiner von den anderen, das würde allemal Eindruck schinden.
Ob das Zeichen ein Familienwappen oder so etwas sei, wollte der Fette wissen.
Ja, so etwas Ähnliches, antwortete sein Vater und stimmte ein kehliges Lachen an.
Er blickte ihm genau ins Gesicht, als die Nadel auf seine Schulter traf. Sein Vater hatte die Arme auf seinen Stock gestützt und beobachtete alles, aber seine Augen waren seltsam leer.
Es brannte wie Feuer. Nach einer Weile hielt er es nicht mehr aus und verzog schmerzvoll das Gesicht.
Memme!, schimpfte sein Vater. Er solle sich gefälligst wie ein Mann benehmen, er habe als Soldat auch keine Zeit gehabt, sich selbst zu bedauern, er habe handeln müssen. Und schließlich habe er das Zeichen ja gewollt, seine Idee sei es nicht gewesen. Nun müsse er es auch durchstehen.
Sein Sohn drehte den Kopf auf die andere Seite. Er wollte nicht, dass sein Vater sah, wie sich seine Augen mit Tränen füllten. Und es war nicht wegen der Schmerzen.
Was war das bisher nur für ein Tag gewesen! Was war das überhaupt für ein Fall! Kraftlos ließ sich Kluftinger auf seinen Schreibtischstuhl fallen. Kurz hatte es so ausgesehen, als würden sie endlich weiterkommen – und nun dieser Rückschlag. Wieder einmal war alles viel komplizierter, viel rätselhafter, als es auf den ersten Blick schien. Noch dazu sah alles so aus, als
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