Seegrund
»Kreuzkruzifix! Wo warst du denn?«
»Du hast doch nicht im Ernst geglaubt, dass ich draußen stehen bleibe und für dich den Toilettenboy mache!«
»Wenn man einmal was von dir will …«
Erika unterbrach ihr wütendes Gezischel: »Wie schaust du denn aus? Bei der Krawatte muss das dicke Teil länger sein als das dünne, das ist dir schon klar, oder?« Mit diesen Worten löste sie seinen Knoten und band ihm mitten im Geschenkeladen die Krawatte neu. Er kam sich vor wie als Kind, wenn seine Mutter ihn mit einem mit Spucke angefeuchtetem Taschentuch das Gesicht abgewischt hatte. Genau genommen tat sie das heute immer noch manchmal.
Anschließend nahmen sie an einer »Backstage-Führung« durch das Theater teil. Alles war stilvoll und zurückhaltend gestaltet, um den Brunnen am Eingang waren elegant wirkende Marmorplatten verlegt und nur die Türgriffe und ein paar andere Details waren mit stilisierten Schwänen und silbernen Ornamenten verziert. Schon neulich, als er mit Günther Steinle vom Wasserwirtschaftsamt hier gewesen war, hatte ihn diese Schlichtheit beeindruckt.
Voller Stolz berichtete der ältere Herr, der die Führung leitete, von den technischen Möglichkeiten im Theater. Er klang dabei so, als gehöre ihm der Bau, fand Kluftinger.
Unter anderem gab es eine riesige, echte Wasserfläche auf der Bühne, die man öffnen und schließen konnte. Früher sei der Ludwig-Darsteller am Ende des Stückes in das Bassin gestiegen, das den Starnberger See darstellen sollte. Das Publikum habe immer gemutmaßt, er sei dann durch einen unterirdischen Gang am Seegrund wieder aus dem Becken gekommen. Sofort fühlte sich der Kommissar an seinen Fall erinnert. König Ludwig hatte in den dunklen Fluten seinen Tod gefunden – worauf würde er noch stoßen?
»Möchte jemand den Engel machen?«
Ehe Kluftinger die Frage ihres Führers verstanden hatte, hatte Markus bereits auf ihn gezeigt und alle anderen hatten zustimmend mit dem Kopf genickt. Schon wurde er in Richtung einer riesigen kreisrunden Scheibe geschoben, die von der hohen Decke im Bühnenturm hing.
»Das ist der Mond, in dem erscheint dem König während des Stückes mehrmals ein Engel«, erklärte der Führer und fuhr zu Kluftinger gewandt fort: »Wenn Sie bitte hier hineingehen wollen.« Dann zögerte er, taxierte den Kommissar und fragte vernehmlich: »Sie wiegen ja sicher nicht mehr als hundert Kilo, oder?«
Kluftinger blickte in die Runde und es schien ihm als warteten alle ungeduldig auf seine Antwort. »Sicher nicht«, log Kluftinger eilfertig.
Auf der Rückseite des Mondes befand sich der Einstieg in die Scheibe. Kluftinger konnte kaum etwas sehen, so dunkel war es hier hinten.
»Halten Sie sich gut fest«, rief der Mann. Da fing die Holzkonstruktion schon gefährlich an zu schwanken. Es dauerte einige Sekunden, bis Kluftinger begriff, dass er nach oben gezogen wurde.
»He!«, rief er. »Was soll das?«
»Ganz ruhig, gleich haben wir’s«, antwortete der Führer und fügte etwas leiser an seine Gruppe gerichtet hinzu: »Hoffentlich halten unsere Seile.«
»Das hab ich gehört«, schrie Kluftinger und löste damit glucksendes Gelächter aus. Bevor er noch etwas anderes sagen konnte, gingen die Scheinwerfer an. Erst jetzt sah der Kommissar, wo er war: Er schwebte mittlerweile etwa fünf Meter über dem Bühnenboden in der Scheibe. Vor ihm stand ein Gestell, das ihm bis zur Hüfte reichte. Erst wusste er nicht, wozu es gut sein sollte, dann erkannte er, dass es ein wallendes Kleid war. Seine Wangen leuchteten. Er sah auf die Bühne und blickte in die schadenfroh grinsenden Gesichter seiner Familie. Prima.
»Ich will sofort hier runter«, schrie er und begann, derart heftig hin und her zu schaukeln, dass es ein Bühnenarbeiter mit der Angst zu tun bekam: »Aufhören! Sie machen mir ja die ganze Deko kaputt. Ich lass Sie ja runter!«, brüllte er.
Unten angekommen wurde ihm von ihrem Führer ein kleines Foto in die Hand gedrückt. Es zeigte ihn mit verzerrtem Gesicht und berüschtem Kleid in der Scheibe. »Das große Bild kommt an unsere Fotowand«, sagte der Mann und klopfte dem völlig konsternierten Kommissar auf die Schulter.
»Das Zeug könnten wir gut fürs Freilichtspiel gebrauchen«, sagte Kluftinger, als sie beim Essen im so genannten Biergarten saßen, einem rustikal eingerichteten Lokal im Musicalbau. Das Freilichtspiel war ein Open-Air-Theater, das alle paar Jahre in Altusried aufgeführt wurde und in dem auch Kluftinger mit seiner
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