Seegrund
Spinnst jetzt du? Ich werd wegen so einem Schmarrn weinen.«
»Schon gut«, antwortete Erika mit einem wissenden und zufriedenen Lächeln.
Kluftinger dachte wieder über das unvermutete Auftauchen des Zeichens nach, als er den Mercedes des Doktors zurücksetzte. Er hatte Markus den Schlüssel abgenommen und die anderen aufgefordert, am Eingang zu warten.
Er drückte auf den »Tür-Auf-Knopf« auf der Fernbedienung des Mercedes. Festbeleuchtung empfing ihn, und als er auf dem beigefarbenen Ledersessel Platz genommen hatte, kam von hinten der Gurt angefahren.
Kluftinger steckte den Schlüssel ins Zündschloss und startete den Motor, der durch ein dumpfes Brummen Aufschluss über seine Kraft zuließ. Nicht schlecht eigentlich, dachte sich Kluftinger.
Als er den Rückwärtsgang einlegte, erschrak er: Ein lautes »Pling« erklang. Nachdem Kluftinger alle wichtigen Punkte wie Licht, Sicherheitsgurt und Blinker überprüft hatte, beschloss er, das Geräusch einfach zu ignorieren.
Er überlegte gerade, wer ihm im Musical wohl über die überall eingearbeiteten Ornamente Auskunft geben könnte, da wurde er von einem lauten Knirschen aus seinen Gedanken gerissen. Er bremste instinktiv, dann wurde ihm heiß und kalt zu gleich. Er kannte dieses Geräusch – es entstand, wenn lackierte Oberflächen über Stein schabten.
Er stieg schnell aus, woraufhin das Plingen in einem einzigen Dauerton kulminierte, lief um den Wagen herum und ging in die Hocke: Um Gottes willen! Er hatte beim Zurücksetzten einen großen Stein hinter dem Auto übersehen. Auf dem in Wagenfarbe lackierten Stoßfänger prangte nun ein hässlicher Kratzer. Er schluckte. Wie um alles in der Welt sollte er aus dieser Sache unbeschadet herauskommen? Nun war ihm auch klar, was das Klingeln zu bedeuten hatte, das er so beharrlich ignoriert hatte: Es war die Einparkhilfe gewesen.
Kluftinger wog die doppelte Blamage vor dem Doktor und seinem Sohn gegen die Tatsache ab, Unfallflucht zu begehen. Aber konnte man das überhaupt Unfallflucht nennen? Er flüchtete ja gar nicht, im Gegenteil, er fuhr den Wagen ja sogar noch zum Besitzer nach Hause. Und was, wenn der Kratzer vielleicht doch schon vorher da gewesen war? Da würde er sich ja schön lächerlich machen. Am Ende hatte der Doktor ihnen nur deswegen sein Auto geliehen, weil er sich von ihrer Versicherung den Schaden bezahlen lassen wollte. Er blickte noch einmal auf den Stein, der wie ein Puzzleteil genau zu dem Kratzer passte. Und wenn schon: Das sagte rein gar nichts. Es gab schließlich viele Steine, und so, wie der Doktor fuhr, war er sicher auch schon oft gegen welche gerummst. Kopfnickend stieg er wieder in den Wagen und fuhr los.
»Ludwig hoch zwei, der Mythos lebt, schönen guten Tag?«
»Hier Kluftinger, Kripo Kempten. Mit wem spreche ich?«
Kluftinger hatte seine Gedanken nicht so recht geordnet. Er war noch reichlich unausgeschlafen an diesem Morgen, waren sie doch erst um Viertel vor zwei ins Bett gekommen.
»Hier ist die Jessie. Ich bin Assistentin des persönlichen Referenten unseres Geschäftsführers.«
»Aha … ja, Jessie, dann hätte ich gern mal den Geschäftsführer«, antwortete Kluftinger und klang dabei so, als rede er mit einem kleinen Kind, dessen Eltern er sprechen wollte.
»Wen darf ich gleich noch einmal melden?«
Oh je! Wenn »Jessie« so weitermachte, würde sie wohl nie selbst zur persönlichen Referentin aufsteigen.
»Kluftinger, Kripo Kempten«, brummte der Kommissar. Wortlos legte ihn Jessie daraufhin »auf Schleife« und er hörte die Krönungsmelodie aus dem Musical. Nach gut zwei Minuten hatte er den Geschäftsführer tatsächlich am Apparat und brachte in Erfahrung, dass für die Innenausstattung wie für das ganze Ensemble des Festspielhauses der Architekt zuständig sei. Der sei übrigens ein Kemptener, der Kluftinger sogar vom Namen her geläufig war: Tassilo Wagner, einer der bekanntesten Architekten der ganzen Region. Seine Häuser und Bauwerke spalteten die Menschen – ebenso wie sein etwas exzentrischer Kleidungsstil: Man sah ihn in der Stadt nur mit breitkrempigem, schwarzem Hut und einem weiten, dunklen Umhang. Der Geschäftsführer versäumte nicht hinzuzufügen, dass er eher an Zahlen als an der Entschlüsselung irgendwelcher Kunstwerke und Zeichen interessiert sei.
Vor der ehemaligen »Spinnerei und Weberei Kempten« parkte Kluftinger vor einem kleinen Schneehügel. Hier hatte offenbar noch niemand geräumt. Die ganze Nacht über hatte es weiter
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