Seegrund
soll man nicht wieder ausgraben«, hatte er immer gesagt, wenn die Sprache darauf gekommen war. Und erst jetzt wurde Kluftinger bewusst, dass er nie wirklich nachgefragt hatte. Wäre das nicht eigentlich die Pflicht seiner Generation gewesen: nachzufragen, nicht locker zu lassen? Viele hatten das getan, er selbst nicht. Eine Mischung aus Desinteresse und Angst vor den Antworten hatte ihn bisher davon abgehalten.
Ein heftiger Niesreiz lenkte seine Gedanken wieder ins Jetzt. Seine Taschenheizer hatten inzwischen ihren Dienst quittiert und waren hart und steif geworden. Er hatte gelesen, dass man sie eine halbe Stunde kochen musste, um ihnen die Energie zurückzugeben. Die trockene Luft des Heizgebläses im Auto kitzelte seine Schleimhäute.
»Haoaschissss!« Er nieste derart heftig in seine Hand, dass sein Nebenmann erschrocken zusammenfuhr.
»Gesundheit, Herr Kluftinger!«
»Vergelt’s Gott, Herr Steinle. Aber ich glaub, das ist schon zu spät.«
»Hört sich wirklich nicht gut an.«
Kluftinger suchte in seiner Jacke nach einem Taschentuch, das noch zu gebrauchen war, stieß aber nur auf solche, die bereits weit über ihr Fassungsvermögen beansprucht worden waren.
»Könnten Sie mir mal im Handschuhfach schauen, ob da noch ein Taschentuch drin liegt?«, bat er seinen Beifahrer.
Steinle kramte darin herum, schob vergilbte Kassettenhüllen mit Titeln wie »Wunderbare Heimat« und »Zauber der Gitarre« beiseite, grub sich durch eine Schicht durchgebrannter Glühbirnchen, alter Parkscheine und Türschloss-Enteiser, bis er schließlich fündig wurde. Als er das Stofftuch dem Kommissar reichte, fiel sein Blick auf die Stickerei: »A.I.K. … Ihre Initialen?«, fragte er.
Kluftinger verdrehte die Augen: »Ja, so ein Tick meiner Mutter. Sie stickt mir heute noch Buchstaben in alle möglichen Dinger: Socken, Hemden und eben auch Taschentücher.«
»Finde ich eigentlich ganz schön«, kommentierte Steinle. »Das gibt es ja kaum noch, heutzutage ist ja alles zum Wegwerfen.«
»Auch wieder wahr«, nickte der Kommissar und trötete dann lautstark in sein Taschentuch.
»Wie fanden Sie eigentlich den Martl?«, wollte Günther Steinle wissen, nachdem er sich mit einem Blick versichert hatte, dass Kluftinger fertig geschnäuzt hatte.
»Hm, ich fand, er wirkte sehr klar im Kopf. Gar nicht wie ein Spinner.«
»Ja, deswegen hab ich Sie ja hingebracht. Aber ich glaube, im Laufe der Zeit hat er sich so in seine Geschichte verrannt, dass er selbst nicht mehr genau weiß, was daran wahr ist und was nicht.«
»Aber Sie glauben ihm doch?«
»Ich halte ihn jedenfalls nicht für verrückt wie viele andere hier. Er hat hier einen Exotenstatus, der ihm einerseits eine gewisse Narrenfreiheit beschert, andererseits aber auch dazu führt, dass ihn keiner mehr ernst nimmt.«
»Bis auf Sie.«
»Zum Teil eben. Wie ich sagte: Man weiß, dass das Gelände irgendwie militärisch genutzt wurde. Aber wofür genau, das ist bis heute nicht wirklich klar.« Nach einer nachdenklichen Pause fuhr Steinle fort: »Vielleicht ist das der beste Beweis dafür, dass Bartenschlager Recht hat.«
Kluftinger kam nicht mehr dazu, weiter zu fragen, denn sein Mitfahrer streckte die Hand aus und rief: »Da vorne können Sie mich rauslassen.«
Als er allein Kurs auf Marx’ Büro nahm, merkte er erst, wie erschöpft er war. Der Tag hatte viele Überraschungen für ihn bereitgehalten, und er hatte das Gefühl, etwas Großem auf der Spur zu sein. Etwas zu Großem vielleicht, und dieser Eindruck behagte ihm gar nicht. Wie ein dunkler Schatten hatte sich plötzlich die Vergangenheit über seine aktuellen Ermittlungen gelegt. Eine Vergangenheit, die … Mit aller Kraft stieg Kluftinger aufs Bremspedal und wurde von seinem abrupten Manöver gegen den Sicherheitsgurt gepresst. Ein Hupkonzert hinter ihm machte ihm klar, dass der nachfolgende Fahrer nur mit Mühe einen Auffahrunfall verhindert hatte. Er brauchte ein paar Sekunden, dann hatte er den Schreck über sein eigenes Handeln überwunden. Er hatte soeben etwas gesehen, eigentlich mehr wahrgenommen, unterbewusst. Etwas, das ihm durch alle Glieder gefahren war. Er schaute in den Rückspiegel. Da war es: Auf dem Schild des Tauchladens, den sie erst vor wenigen Tagen besucht hatten, prangte das Zeichen aus dem Schnee.
Als Kluftinger auf den Eingang zuschritt, war er sich nicht mehr so sicher, ob es wirklich das gesuchte Symbol war. Er hatte es beim Vorbeifahren spiegelverkehrt gesehen und sofort diese
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