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Seehamer Tagebuch

Seehamer Tagebuch

Titel: Seehamer Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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der letzte Scaliger, sondern ein Korbflechter, der in dem höchst italienisch anmutenden Burghof saß und einen Waschkorb reparierte. Die Herrschaften seien nicht da. An der Treppe, die zu den drei Etagen übereinanderliegender Veroneser Rundbögen hinaufführte, stand zu — lesen: »Der ältere männliche Dackel Wastl soll nicht treppensteigen! Bitte hinauftragen oder untenlassen!« War das der Hund, vor dem gewarnt worden war? Jedenfalls schien der Nachfahr des grausamen Antonio, der so gut mit Gift und Dolch umzugehen wußte, seinen Ahnen unähnlich zu sein. (Das mit dem Wappen stimmte tatsächlich, wir lasen es später nach.)
    Das Essen im Gasthaus drunten im Dorf war auch ganz wie im Bayern vor 1912: das Ochsenfleisch wie gekochte Gummiwärmflasche.
     
     
     

30. Mai
     
    Man hat mir einen modernen Roman zu lektorieren gegeben. Nach dem Abspülen habe ich mich damit in die Sonne hinters Haus gesetzt. Ich habe gar nicht verstanden, was darin vorgeht. Sicher war die Sonne schuld. Abends im Bett wurde es mir auch nicht klarer, aber da habe ich gedacht, ich sei vielleicht zu müde, um noch etwas richtig aufzufassen. Von da an habe ich aufrecht sitzend gelesen, am Schreibtisch, gleich nach dem Frühstück. (Natürlich, es kann nicht immer alles einfach und überschaubar sein; »Eduard, so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter...«, beginnen die Wahlverwandtschaften.) Am Schluß wußte ich noch immer nicht, wer überhaupt wer ist und mit wem was getan hat. Ich habe mir eine Flasche Lezithin gekauft und von vorn angefangen.
    Es hat doch am Buch gelegen.
     
     
     

3 . Juni
     
    Abends sind wir aus der Küchentür gegangen, und nach ungefähr zehn Schritten hörte man nur noch Frösche, Hunderte, Tausende, in an- und abschwellendem Chor, der an eine applaudierende Menschenmenge erinnerte. Am Himmel flockten die Wolken wie geronnene Milch. Irgendwo dahinter mußte der Mond stehen. Es war so kalt, daß man die Hände in die Tasche steckte. Ob es wohl wärmer gewesen ist, als Eichendorffs »Brunnen verschlafen rauschten in der prächtigen Sommernacht?« War das Klima zur Zeit der Romantiker wirklich besser? War es nicht schon damals nur eine einzige vollendet schöne Sommernacht, zu der Eichendorffs Sehnsüchte (und unsere) immer wieder zurückkehrten, weil »nur Gedenken hold ist, nie das Heute...«?
     
     
     

4 . Juni
     
    Es regnet wieder. Wenigstens hatte die Fronleichnamsprozession trockenes, schwüles Wetter. Still hingen die Fahnen herab, als sie durch die hitzeflirrenden Felder getragen wurden. Ich stand zwischen den Heuhocken und sah die Prozession vorüberziehen. Die Jungfrau Maria im hellblauen Mantel lächelte milde auf die Handtäschchen ihrer Trägerinnen nieder, die zwischen den Blumen zu ihren Füßen lagen. All die Männer und Frauen, die ich so gut kannte, waren feierlich verwandelt und erhöht. (Wie — .groß doch die Kinder seit dem letzten Mal geworden waren und wie sie sich bemühten, brav zu sein!) Immer wenn ich gerade spürte, wie sehr sie alle mir in den letzten Jahrzehnten ans Herz gewachsen sind, rummste der Böller los und erschreckte mich fürchterlich.
     
     
     

5 . Juni
     
    Meine Bandscheibe meldete sich zum Wort. Großmama hatte gar keine Bandscheiben, weil sie nicht Auto fuhr und man damals kaum medizinische Kenntnisse besaß. (Laut Todesanzeige der Ottilie von Goethe, geborene Pogwisch, starb der alte Geheim rat an »einem nervös gewordenen katarrhalischen Fieber«.) Heute haben nahezu alle Leute Bandscheibenkenntnisse, und ich werde mit Ratschlägen überschüttet: Moorpackungen, Unterwassermassagen,
    wirbelfreundliche Rückenlehne im Auto (hab ich schon), Chiropraktiker, Sportarzt in Bad Tölz, Montecatini-Terme in Italien...
    Ein nüchtern denkender Arzt riet mir, den Staubsauger wegzuschmeißen und mit leicht angehobenem Kinn und geradem Rücken auf den Knien mit dem Schäufelchen unter der Couch herumzukriechen.
    Alle meinen sie es gut mit mir.
    Heute kam der Röntgenbescheid. »Spondilotisch-arthritische Abnutzungserscheinungen der gesamten Wirbelsäule.« — Abnutzung? Ich bin doch nur ganz normal genutzt worden. Bei einem Wagen würde es jetzt höchste Zeit, daß man ihn in Zahlung gibt. Wie hoch mag mein Wiederverkaufswert noch sein, ehe die Reparaturen anfangen?
     
     
     

7 . Juni
     
    Die Saison hat allen Ernstes begonnen. Unsere nähere Umgebung tut all ihre natürliche Schönheit von sich, so gut es geht. Rotgestrichene Blechdosen

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