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Seehamer Tagebuch

Seehamer Tagebuch

Titel: Seehamer Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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Griechisch und Latein wird ihm schriftlich bestätigt. Ob er sie später einmal brauchen wird? Sicherheitshalber habe ich ihn noch einer privaten kleinen Reifeprüfung unterzogen, um festzustellen, wie er als Reisebegleiter, als Autofahrer, als Organisator, als Tourist funktioniert. Ich habe mich von ihm im Wagen durch Niederbayern fahren lassen. Zuerst war mir beklommen zumute. Führerschein hin und her, eben noch saß er hinten auf meinem Fahrradträger und hielt sich am Gürtel fest. Dann aber war ich begeistert, mit einem erwachsenen Sohn zu reisen. Keine Wallfahrtskirche, keine Burgruine war uns zu abgelegen. Auf engen Feldwegen drangen durch die heruntergelassenen Fenster Getreidespelz und Pferdefliegen in den Wagen. Regensburg war ein Backofen. Mit Genuß sahen wir all das gründlich an, was Kühle versprach: Kirchen, Kreuzgänge, Rathäuser, das bezaubernde Marstallmuseum. Im Thurn und Taxis’schen Palais wurden gerade die Dienerfräcke gelüftet und geklopft. Etwas faltig geworden und nach Naphthalin riechend baumelten sie an der Leine. Wir wohnten im alten Bischofshof. Im Zimmer war eine Temperatur wie in den Geständniskammern mittelalterlicher Burgen. Abends lagen wir nebeneinander im Fenster und schauten hinauf in das zerklüftete Gebirge der Türme und Türmchen des Doms. Aus dem Hof stiegen Wolken von Essensgerüchen herauf: Kalbsbraten mit Beilagen, Bier, geröstete Zwiebeln. Als das Gewitter dann doch noch kam, stoben Dohlen, Tauben und zerbrochene Ziegel in die Nacht hinaus. Tischtücher und kalte Platten flogen den spät Tafelnden um die Ohren. Kühler wurde es nicht. — Wer wird die nächste Frau sein, die mit Dicki im Fenster eines Hotels lehnt und auf einen nächtlichen Dom blickt? Ein flüchtiger Gedanke hat sie gestreift, unwirklich und geschwind wie eine Sternschnuppe.
     
     
     

22. Juni
     
    Wir brachen sehr früh auf, weil wir wieder mit blödsinniger Hitze rechneten (bis Mitte Juni haben wir geheizt. Und so was will ein gemäßigtes Klima sein!). Wer hätte bei so einer Morgenfahrt nicht an den »Taugenichts« gedacht. »Wir flogen über die glänzende Straße fort, daß mir der Wind am Hute pfiff...« In dieser Stimmung entdeckten wir ein Schloß am Wege und schlichen uns, den Finger zwischen den Seiten eines klugen Reiseführers, in den Hof, um die berühmte Schloßkapelle zu sehen. Um diese Stunde, so meinten wir, störten wir sicherlich noch niemanden. Unter den Arkaden aber erschien unvermutet ein kleiner Junge mit dem seltenen Namen Filippo, der sich auf den Schulweg machte, und eine Dame, die ihm Ermahnungen mitgab und uns mit wenigen Worten erklärte, warum wir die Kapelle nicht fanden: wir waren im falschen Schloß. Die Schloßherrin jedoch war früh um halb acht schon so nett, adrett und liebenswürdig wie manch einer nachmittags noch immer nicht. (Mephisto hätte gesagt: »Nicht jede Gräfin hält so rein...) Wir hätten ihrer Einladung zum Frühstück folgen sollen, aber wir hatten Angst, der Tag würde uns zu kurz. Außerdem hatte ich eine Laufmasche im Strumpf und Dicki einen zerknitterten Hemdkragen. — Als sie mit uns über die Schloßbrücke bis zur Allee ging, die ursprünglich noch zu Ehren Napoleons gepflanzt worden war, kam die Sonne hinter einer Hitzewolke hervor. Es blieb Eichendorff bis zuletzt.
     
     
     

24 . Juni
     
    Ich lese in der Zeitung, daß man jenseits des Eisernen Vorhangs den Hühnern Spritzen gibt, damit sie aufhören zu gackern und dafür mehr Eier legen. Es wäre mir ein entsetzlicher Gedanke, nicht mehr gackern zu dürfen, wenn ich mein Soll erfüllt habe. (Die Eier sind auch bestimmt nicht haltbar, wenn man sie einlegt.)
     
     
     

30. Juni
     
    Wo sind nur all die Pilze geblieben, die sonst um diese Zeit in den Wäldern wuchsen (sofern man früh genug aufstand und rechtzeitig vor den Pilzweiblein da war). Sie sind nicht schon gepflückt, man würde Spuren sehen. Irgend etwas hat in Krieg oder Nachkrieg die Myzelien tief drunten unter den federnden Nadelmatratzen zerstört. Sollen auch Pilze zu den unwiderbringlichen Jugenderinnerungen gehören wie die kurzen, kalten Winter, die langen, trockenen, heißen Sommer?
     
     
     

1. Juli
     
    Heute sticht mir eine Schlagzeile ins Auge. Heidi im Harem. Es klingt nach dem dritten Band eines bekannten Kinderbuches, handelt sich aber um die kleine Gastwirtstochter Heidi Dichter aus Kiel, die nun zu ihrem Ölscheich gezogen ist und als rechtmäßige vierte Haupt-Mittel-Nebenfrau in einem eigenen

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