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Seehamer Tagebuch

Seehamer Tagebuch

Titel: Seehamer Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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(ursprünglich vielleicht Bratheringe für Großverbraucher enthaltend) stehen mit Blattpflanzen darin vor einer Ladentür. Reserve-Gartenstühle steigen aus kühlfeuchten Schuppen ans Licht. Vor einem Bauernhof liegen mehrere alte Autoreifen flach, Erde darin und Blumen hineingepflanzt. Ein schlecht beratenes Dirnlein hat sich zum Einkäufen eine Cocktailschürze umgebunden, deren rustikal-mondäne Motive an eine Hausbar in Wuppertal gehören. Neben dem Fahrplan an der Autobushaltestelle erscheint die Speisekarte des nahen Gasthauses. Maschendraht verhüllt den herrlichen Blick auf unsere Bachmündung: Ein Klein-Golfplatz mit kitschigem Gartenzwerg-Zubehör, Häuslein, Brücklein, etabliert sich dort. Der Drache des Fremdenverkehrs ringelt sich feuerspeiend bis vor unsere Tür! Wackerer Sankt Georg, steh’ uns bei!
     
     
     

10. Juni
     
    Seit ein paar Tagen versuche ich, ein bestimmtes ^ Musikstück mit Worten zu schildern, und es geht nicht. Erst jetzt fällt mir auf, daß die Stelle in Büchern, die davon handeln, wie eine Musik klingt, und was sie bei den Zuhörern auslöst, entweder nichtssagend oder kitschig ist. Wenn das Musikstück nicht beim Namen genannt ist, kann man nicht einmal unterscheiden, ob es sich um den Walkürenritt oder einen Straußwalzer handelt.
    Die geräuschvollen Aufgeregtheiten, die »auch Musik« sind, könnte man ja mit »rauscht auf«, »schwingt sich in den Raum« oder schlicht mit »erklingt« abtun. Bei denen kommt’s nicht darauf an. (Ich sehe noch Papa im Lehnstuhl neben dem Radio, geduldig lauschen, dann bedächtig abstellen und zu Mamas Couch hinüber äußern: »Gräßlich, dies leere Geklingel — sicherlich Liszt, >Wasserspülung in der Villa d’Este<«, worauf Mama jedesmal lachen mußte, obwohl sie den Scherz in fast fünfzig Ehejahren schon oft gehört hatte.)
    Aber es gibt ja noch die andere Musik. Da spielen sie heute vormittag im Radio das Konzert für zwei Violinen von Bach. Ich sitze am Tisch und schäle Äpfel für Strudel. Nichts verändert sich im Zimmer, nicht einmal die Beleuchtung. Und solange die Musik da ist, spüre ich, daß trotz manchem Scheußlichen die Welt in Wahrheit zutiefst in Ordnung ist; ich will ein besserer Mensch werden, und es macht mir auch nichts mehr aus, daß ich sterben muß.
    Und dafür reichen Worte nicht aus.
     
     
     

11. Juni
     
    Da glauben einige, auf dem Land sei es leicht, Ausgleichssport zu treiben. Michael glaubte es bis vor kurzem auch. Er schlüpfte vor dem Frühstück in seinen Trainingsanzug und machte einen Waldlauf. Das Wäldchen bei der Kiesgrube ist ja nicht weit. Der Weg dorthin jedoch beschwerlich. Zunächst riefen ihm die auf den Feldern arbeitenden Bauern ein wohlwollendes »Wo brennt’s denn?« zu. Dann unterbrachen Spaziergänger sein rhythmisches Atmen mit der Frage, warum es denn gar so pressiere.
    Eine Weile hielt Michael durch. Dann kam eines Tages der Ortspolizist, wegen seines Leibesumfangs das Fettauge des Gesetzes genannt, und fragte, was bei uns gestohlen worden sei. Wir schauten ihn verständnislos an. Zwei Jungen, so kam heraus, hatten Folgendes berichtet: »Aus der Hintertür von dem Holzhäusl am See ist ein Mann ganz in Schwarz herausgestürmt und ist wie verrückt ins Wäldchen gelaufen. Dort hat er was Helles aus der Brusttasche gezogen und weit weggeworfen.
    Danach ist er umgekehrt und hinter uns hergejagt, bis wir uns vor lauter Angst vor dem Dieb in einem Schuppen verkrochen haben.
    Michael konnte den Ortspolizisten beruhigen: der Dieb sei er, das Helle seine Hand gewesen. Er mache immer ein paar Atemübungen, ehe er umkehre.
    (Dicki, der öfters auf diese Fabel hin angeredet wurde, gab gern die Auskunft, es sei uns ein Brillantenkollier weggekommen.)
    Meine Ausgleichsübungen beschränken sich auf eine Sportart, die hier verstanden wird: aufs Sägen. Bleibt wirklich jemand mal am Zaun stehen und schaut herein, so äußert er tiefsinnig: »Soso, wird Holz geschnitten...« Wer die Bayern kennt und liebt, wird diese Bemerkung als Zustimmung, Anfeuerung und Teilnahme werten.
     
     
     

12. Juni
     
    Ein einziges Mal hatte ich in meiner Mädchenschule in der Tengstraße eine Eins in Physik geschrieben, und zwar über eine mehr technische Frage. Ich jubelte, weil ich hoffte, ich könne vielleicht doch etwas Technisches begreifen lernen. Es ist dreißig Jahre her. Und die Hoffnung war trügerisch. Ich weiß noch immer nicht, wieviel ich von etwas Technischem verlangen darf. Ich verlange, so

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