Seeherzen (German Edition)
aber nicht. Ich tu’s manchmal, wenn ich hier hochkomme, um es zu bewundern. Es ist direkt hinter dem Spiegel, und die Schuhe stehen darunter. Du siehst sie sofort. Und dann …
Ich kann mich noch gut erinnern, dass ich nur noch wegwollte – weg von diesem ganzen Gerede über Tod, weg von dem ganzen Durcheinander. Ich war damals schwanger mit Halfpenny und kugelrund; der Ort schnürte mir die Kehle zu, und mir war schlecht. Ich brauchte frische Luft.
Und was dann?
, fragte ich schnaufend.
In der obersten Schublade
, sagte sie und blickte darauf, obwohl die Schranktür und die Schubladenfront sie verbargen.
Da liegt auch was drin. Leg es zu mir ins Grab. Niemand darf davon erfahren.
Ich nehme die erste Kiste und beginne mit dem Hin-und-her-Räumen, lege den Pfad bis zum Schrank frei. Die untersten Kisten sind so schwer, dass ich sie über den Holzboden schieben muss – was da bloß drin ist?
Schließlich habe ich mich durchgearbeitet. Seht euch bloß diese hagere Hexe im Spiegel an! Wie wirr sie aussieht! Und wie frech sie die Zunge rausstreckt! Ich öffne die Tür, um ihr hässliches Gesicht zu verstecken.
Das Kleid hängt darin; darunter warten die leeren Schuhe.
Du findest es bestimmt altmodisch.
Das Kleid ist lang, dunkel, hochgeschlossen und kunstvoll gefertigt – das würdevollste Kleid, das ich jemals gesehen habe. Ich hebe den schweren Rock an, um die Bordüre des Rocksaums besser betrachten zu können – übereinandergelegte Stoffbahnen mit herausgefalteten Spitzen –, keine albernen Rüschen für unsere Miss. Ich drehe einen der Schuhe herum und bewundere das Fabrikat, die Schnalle und den geschwungenen Absatz, den zu einer kecken Schleife geformten Schnürsenkel – sie kommen mir fast wie kleine Tiere vor.
Es ist alles maßgefertigt
, sagte sie damals, und dann musste sie mir erklären, was
maßgefertigt
bedeutet. Sie war wegen der Sachen nach Cordlin gefahren, hatte einen Damenschneider für das Kleid Maß nehmen und es nähen lassen. Ein Schuster aus der Stadt, der in London gelernt hatte, entwarf und fertigte die Schuhe für sie. Das Leder hatte sie selbst ausgewählt, genau wie den edlen schweren Stoff – eine Schande, es zu beerdigen!
Ich nehme das Kleid heraus; geschmeidig lässt es sich von mir zusammenfalten.
Da liegt auch ein Päckchen mit Unterwäsche, sehr schöner Unterwäsche, mit einer Schnur umwickelt.
Ja, dahinter ist es; ich hole es hervor.
Ich öffne die andere Schranktür, die, an der kein Spiegel ist, und ziehe die Schublade heraus. (
Leg es zu mir ins Grab
, sagte sie. Und dann kam Penny hereingeplatzt und umklammerte quengelnd meine Knie, sodass ich nicht mehr dazu kam, sie zu fragen,
was
ich ihr mit ins Grab legen sollte.)
Was es auch sein mag, es ist in Seidenpapier eingeschlagen, das ganz zerknittert ist, weil es oft, sehr oft, auf- und zugewickelt wurde.
«Wahrscheinlich ein Geschenk», flüstere ich und drücke das weiche Päckchen ein wenig zusammen, «von einem unvermuteten Verehrer, einem achtbaren Mann. Wenn ich das jemandem aus dem Dorf zeigen würde, gäb’s sicher einen Skandal.»
Ich löse die ausgeblichene Schleife und entfalte das Seidenpapier.
Vor mir liegt ein winzig kleines Nachthemd – es sieht aus, als gehöre es einer Puppe. Keins meiner Babys war so winzig, nicht einmal mein kleiner Junge, nicht einmal direkt nach der Geburt. Auf der Brust ist mit einer silbernen Anstecknadel ein Papierschnipsel befestigt:
Ean.
«Ean?», hauche ich. Ganz langsam, als könnte es zu Staub zerfallen, wenn ich nicht vorsichtig bin, halte ich das Hemdchen ins etwas hellere Licht. Ich kann es auf einer Hand ausbreiten.
«Ah!», rufe ich und drücke es an meine Brust. In dem Päckchen schimmert unter einem kleineren Stück Seidenpapier ein weiteres Nachthemd hindurch – als sei es der Geist des Hemdchens in meiner Hand. Ich nehme das Stück Seidenpapier herunter. Dieses Hemdchen ist nicht so alt und weniger vergilbt.
Froman
steht auf dem festgesteckten Stück Papier.
«Froman!»
Ich komme der alten Frau immer mehr auf die Schliche, falte das Froman-Hemd zusammen und schiebe es zur Seite: noch ein Stück Seidenpapier, noch ein Geisterhemd – das letzte.
Raschelnd schiebe ich das Papier beiseite. Draußen schleudert der Wind sich selbst durch die Gegend. Das dritte Nachthemd ist ein Festland-Fabrikat: feiner und weicher. Unter dem angesteckten Papierschnipsel ranken gestickte Kornblumen heraus.
Hugh
. Stumm forme ich den Namen mit den Lippen, kein
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