Seeherzen (German Edition)
meiner anderen Seite.
«Da wären wir», übertönte Baker ihn. «Das ist das Winch-Haus.»
Ich musste fast lachen – das Haus war winzig wie ein Puppenhaus. Und es sah ganz schief aus; durch das abfallende Gelände wirkte es, als lehnte sich das Haus haltsuchend an den Hügel. Gras und Unkraut wucherten die Zäune hinauf und bis zu den Fensterbänken hoch, wie Wildsalat über den Rand einer Schüssel. Büschel aus Grasnelken rankten sich am Zaun entlang, und zwischen den Latten schlängelte sich Strandrauke bis über die Grenzen des Grundstücks hinaus.
«Einer von den Jungs kann das für Sie runterschneiden, Miss Severner», unterbrach eine zaghafte Stimme mein Schweigen.
«Wie bitte? Ach, das Unkraut? Ja, gern.»
Ich drückte das Tor mit aller Kraft gegen die Unkrauttriebe auf dem Weg und bekam es ein Stück weit aufgeschoben, quetschte mich daran vorbei und ließ mehrere junge Männer zurück, die angeboten hatten, mir zu helfen. Ich drängte mich zwischen die wuchernden Gewächse zu beiden Seiten und ging den vom Unkraut rissigen Weg entlang. Ich zog den großen schwarzen Schlüssel an seinem Band hervor, steckte ihn ins Schloss und drehte ihn herum, umfasste die Türklinke, schob den Riegel hoch und stieß die Tür weit auf.
Staub wirbelte vom Boden auf und ließ meinen Blick die tapezierten Wände hinaufgleiten und über die Bilder, die dort hingen – zwei stürmische Meerlandschaften, fast vollständig zu dunklem Braun verblasst. Hinter dem Flur warf die Rückenlehne eines Küchenstuhls einen bogenförmigen Schatten; ein fadenscheiniger fransiger Vorhang hing an der Gardinenstange in der Küche, vom jahrelangen Sonnenlicht verblichen.
«Sollen wir die Bretter vor den Fenstern abmachen, Miss?», erbot sich einer der jungen Männer, während ich ins Haus hineinstarrte.
«Vielleicht demnächst», sagte ich. «Im Moment würde ich mir das Haus gern erst mal allein anschauen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.»
Ich ging zurück über den Weg, um meinen Koffer zu holen. Der junge Mann reichte ihn mir über das Gartentor herüber. «Danke», sagte ich, und nachdem mein Blick sie alle gestreift hatte – Trudle, die sich mühsam im Zaum hielt, und ihre ganzen argwöhnischen Töchter –, setzte ich nach: «Vielen Dank, dass Sie mir den Weg gezeigt haben.»
Ein älterer Mann räusperte sich. «Wenn Sie irgendwas brauchen …»
«Dann melde ich mich.»
Die Männer schlenderten den Hügel hinunter. «Komm, Trudle», sagte Mr. Baker zu der kleinen krummbeinigen Frau, die entschlossen schien, zu bleiben, zu gucken und ihr Missfallen noch ein wenig länger zu demonstrieren.
«Was will die hier?», hörte ich sie mit ihrer Gurgelstimme fragen, als sie mit ihm fortging. «Wer kommt denn hierher und haut nicht noch am selben Tag wieder ab?»
Ich hörte Mr. Baker etwas murmeln, verstand aber nicht, was er sagte. Ich nickte den Männern zu, die gerade im Aufbruch waren, einige tippten sich zum Abschied an den Schirm ihrer Mütze.
Dann wandte ich mich dem Haus zu, den dunklen Zimmern mit den geschlossenen Fensterläden, dem dicken Staub, der bedrückend schlichten Einrichtung. Genau so würde es sich wohl anfühlen, in meinem eigenen verwundeten Herzen einzuziehen, dachte ich. Dann ging ich den Weg hinauf und trat ein.
* * *
Ich klopfte an die sonnenbeschienene Tür der einzigen Person, die ich zumindest ansatzweise kannte.
Sein Vater öffnete und musterte mich von Kopf bis Fuß, als hätte er so etwas wie mich noch nie gesehen.
«Mr. Mallett?»
Mallett nickte, dann fiel ihm auf, dass er etwas sagen sollte, und krächzte: «Ja.»
«Ich heiße Lory Severner. Wäre es möglich, mit Ihrem Sohn Daniel zu sprechen?»
Er senkte den Blick wieder, senkte das ganze Gesicht, wandte sich von mir ab und ging durch das geräumige Wohnzimmer. Weiter hinten im Haus hörte man Tellerklappern und Wasser. Die Morgensonne schien mir warm auf den Rücken und tauchte genüsslich alles in Gold. Ich drehte das Gesicht der Wärme entgegen.
«Lass das ruhig stehen; ich spül’s gleich zu Ende», erklang die Stimme des jüngeren Mannes, und ich wandte mich um, um ihn mir anzusehen. Er war deutlich größer als sein Vater und zog den Kopf ein, als er hinten in den Flur trat.
«Guten Morgen», sagte ich zu seinem Schatten.
Er trat ins Wohnzimmer und wurde vom Sonnenlicht angestrahlt, das von der Stufe, auf der ich stand, nach oben geworfen wurde. «Morgen.»
Er war sehr groß und schlaksig, aber es war eindeutig er.
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