Seele zum Anbeißen: Roman (German Edition)
Laune zu sein. Er zieht mich neben sich auf die Bank, legt liebevoll den Arm um mich und sagt: »Während du deinen fleischlichen Gelüsten nachgegangen bist, konnte ich zuschauen, wie der Zug einfuhr und wieder abfuhr. Und zwar ohne uns.«
»’tschuldige«, flüstere ich betreten, »aber ich hatte solchen Hunger.«
»Sieht man.« Mit dem Zeigefinger streicht er über mein Kinn, entfernt einen Krümel, der mir entgangen ist. »Aber du weißt doch, in jeder Krise steckt auch eine Chance. Und man begegnet Menschen, die man sonst nie getroffen hätte. Darf ich bekannt machen?« Er wendet sich mit großer Geste Uli zu. »Ich möchte Ihnen meine Doreen vorstellen.«
An Rudolf vorbei nicken wir einander zu. Wobei mir das eindeutig schwerer fällt als Uli, denn ich habe schon wieder solches Herzklopfen, während er nur ungläubig schaut.
»Ah ja ... Doreen«, sagt er nach einem Moment, und ich habe den Eindruck, dass er dabei ein wenig spöttisch lächelt.
»Exakt! Doreen!«, wiederhole ich deshalb schärfer als beabsichtigt. »Ich wüsste auch nicht, was dagegen spricht!«
Rudolf sieht mich irritiert an. »Jetzt sei doch nicht so«, flüstert er mir zu und erklärt dann: »Stell dir vor, wir haben gerade festgestellt, dass Uli in derselben Wohngemeinschaft lebte wie ich.« Er lacht und schlägt sich mit beiden Händen auf die Oberschenkel. »Na ja, er natürlich ein paar Jahre später, und Bea und Joschi wohnten schon längst nicht mehr da, aber die Tür im Bad war immer noch kaputt und im Treppenhaus ...«
Mit offenem Mund starre ich Uli an. »Du warst in Berlin? ... Du?«
Das
du
ist mir so rausgerutscht, und ich entschuldige mich auch sofort. Aber Rudolf meint, natürlich müsse man sich duzen, das sei doch sozusagen selbstverständlich, vor allem, wenn man gemeinsam den Zug verpasst habe (heftiges Gelächter der beiden), und er heiße übrigens Rudolf. Es folgt allgemeines Händeschütteln, und einen Moment lang befürchte ich, dass Uli aufsteht, um das Du mit einem Küsschen zu besiegeln. Aber das bleibt mir dann doch erspart, denn ihm ist gerade eingefallen, dass von Gleis acht in wenigen Minuten ein Regionalexpress nach Aulendorf fährt und den könne man doch nehmen.
»Du fährst auch nach Aulendorf?«, rufe ich schockiert, aber das geht im allgemeinen Durcheinander unter.
Aulendorf! Hätte ich mir doch denken können. Ich trotte hinter den beiden her, Rudolf trägt den Koffer und das Notebook, Uli die beiden Taschen und den Rucksack – und ich die Verantwortung dafür, dass diese Reise in meine Vergangenheit nicht schiefgeht.
2. Kapitel
»Doreen ist so still«, stellt Rudolf fest, als wir in den Zug eingestiegen sind. »Das ist ja ganz ungewöhnlich.«
»Ich will euer Gespräch über diesen vielversprechenden jungen Maler nicht stören«, gebe ich zurück und schaffe es zu lächeln. Wobei ich allerdings eher kurz davor bin zu platzen. Das liegt an den zwei Leberkäswecken, die zusammen mit fünfhundert Gramm Springerle meinen Magen eindeutig überfordert haben (normalerweise nehme ich mittags so ungefähr drei Salatblätter zu mir). Aber vor allem liegt es daran, dass die beiden Männer sich anscheinend hervorragend unterhalten, Uli sich in moderner Kunst bestens auskennt – und ich dabei ganz schön alt aussehe.
Rudolf wirft ihm einen vielsagenden Blick zu. »Madame wünscht ein anderes Gesprächsthema. Aber bitte, bekommt sie doch sofort.«
Leider fällt ihm dann aber nichts Besseres ein als ausgerechnet von unserem Kennenlernen am Taxistand zu erzählen: »Ein ganz bescheuerter Dienstag, mal wieder Streik bei den Verkehrsbetrieben, und dann regnet es auch noch in Strömen. Ich am Taxistand in einer endlosen Schlange. Meine Laune kann man sich ja vorstellen. Plötzlich tippt mir jemand auf die Schulter, ich dreh mich um und da steht diese Wahnsinnsfrau vor mir und will wissen, bei welchem Friseur ich bin. Kannst du dir das vorstellen, Uli?«, prustet er los. »Sie will tatsächlich wissen, welchen Friseur ...«
Weil meine Erfahrung mir sagt, dass nichts Männer so sehr verbindet wie gemeinsames Lachen auf Kosten eines Dritten (meist sind es wir Frauen), muss ich sofort einschreiten. »Mein lieber Rudolf, ich fürchte, bei mir ist ’ne kleine Migräne im Anmarsch«, behaupte ich und stöhne leise auf. »Würde es euch sehr viel ausmachen, etwas leiser zu sein?«
Beide beteuern, dass es ihnen selbstverständlich nichts ausmachen würde, wirklich überhaupt nichts, und ich schließe schon
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