Seele zum Anbeißen: Roman (German Edition)
kommst du mit! Das ist doch auch was für dich, gell?«
Rudolf, mit seiner angeborenen Allergie gegen alles, was auch nur entfernt nach Baumarkt riecht, wirft mir einen entsetzten Blick zu. Aber bevor ihm eine Ausrede einfällt, wird die Autotür von außen aufgerissen. Renate, der ich so viel Schwung niemals im Leben zugetraut hätte, steht da in einem rosaroten Strickkostüm, das jedes ihrer zahlreichen Fettpölsterchen millimetergenau nachzeichnet. Sie nimmt Rudolf ins Visier, breitet die Arme aus und jubelt: »Willkommen! Willkommen in unserem wunderschönen Oberschwaben! Ein vom Herrgott gesegneter Landstrich mit ...«
Lautes Räuspern von Wolfgang lässt sie verstummen und mir fällt erst einmal die Kinnlade runter angesichts dieses Empfangs. Was ist nur mit Renate los? Hat sie eine Werbebroschüre verschluckt? Gut, überschwänglich war sie immer schon, aber
so
habe ich sie noch nie erlebt. Sollte sie womöglich irgendwas genommen haben? Erst jetzt scheint Renate mich wahrzunehmen, tätschelt mir flüchtig den Oberarm, um sich dann sofort wieder mit ungebrochener Begeisterung Rudolf zuzuwenden: »Ond dass Sie mitkommet, Herr Dokter! Des isch doch die gröscht Freid für uns alle!«
Rudolf wehrt ab, dass er doch nur Doktor h. c. sei, »der Ehre halber« übersetzt er vorsichtshalber, weil Renate immer noch so verzückt schaut. Und den Titel wolle er auf keinen Fall mehr hören, man sei doch unter sich und deshalb sei er ganz einfach der Rudolf, und damit basta.
»Ruuudolf«, wiederholt Renate schmelzend und nimmt seine Hand. »So ein schöner Name. Hat es da nicht einen berühmten Musiker gegeben? ... Wenn ich mich richtig erinnere, hieß er Rudolfo ...«
Sie stockt. Keine Ahnung, ob sie nicht mehr weiter weiß, oder ob es für sie einfach zu anstrengend ist, hochdeutsch zu reden. Ist aber auch egal, denn Wolfgang, der soeben zufrieden festgestellt hat, dass sich am Gartenzaun etliche Latten gelockert haben, die er unbedingt gleich nachher wieder festnageln müsse, meint schließlich trocken: »Wir können reingehen. Es gibt Mittagessen.«
»Das könnte mich direkt vor dem Verhungern retten«, murmelt Rudolf und kneift mich in den Unterarm. Ich grinse ihn an, nicke freundlich, als Renate jammert, dieser Sommer sei ja auch wieder kein richtiger Sommer ... Und dann, ganz plötzlich, überfällt mich die Erinnerung. Wie oft bin ich als Kind diesen schmalen Plattenweg zwischen den wuchernden Rosenbüschen entlanggerannt, vorbei an flammend roten Taglilien, die gelben Blütenstaub hinterließen, wenn man nicht aufpasste, habe mit der Hand die Lavendelbüsche gestreift, den Duft eingesogen, bin voller Ideen und Freude gewesen, voller Tatendrang, habe gedacht, das Leben würde so weitergehen, das ganze Leben ein einziger Sommertag ...
Unsere kleine Prozession mit Wolfgang an der Spitze stockt. An der Haustür steht Papa, im dunkelblau-gestreiften Bademantel, darunter augenscheinlich ein Pyjama, und streckt uns sein Hörgerät entgegen, brummelt: »Was ist das?«
Mein Bruder nimmt es ihm aus der Hand, streichelt ihm liebevoll über die Schulter. »Alles in Ordnung, Papa!«, brüllt er dann. »Das ist ein Hörgerät! Und die Batterien müssen nur ausgetauscht werden! Ich kümmere mich darum! Jetzt schau lieber mal, wer gekommen ist!«
Mein Herz klopft bis zum Hals, als Wolfgang den Blick meines Vaters in meine Richtung dirigiert. »Hallo Papa«, sage ich tonlos. Rudolf drückt meine Hand, mein Bruder flüstert warnend: »Lass dir nichts anmerken, er verträgt keinen Stress«, und hinter mir schnieft Renate.
»Papa, ich bin wieder da«, sage ich in die Stille hinein. Meine Stimme klingt brüchig. Mit leerem Gesichtsausdruck mustert er mich. Alles in mir krampft sich zusammen. Denn dieser Greis dort hat so gar keine Ähnlichkeit mit dem energiegeladenen Mann, der einmal mein Vater war. So schlimm habe ich es mir nicht einmal in meinen Alpträumen vorgestellt. Dann, ganz unvermittelt, überzieht ein kurzes Leuchten sein Gesicht.
»Gisela«, murmelt er glücklich. »Gisela.«
Gisela? ... Wer ist Gisela? Auch Wolfgang und Renate scheinen einen Moment lang ratlos zu sein, aber dann strafft meine Schwägerin die Schultern und prescht an uns vorbei. »Ach du lieber Himmel!«, ruft sie. »I han doch was im Backofe! A echt schwäbische Spezialität ibrigens!«
Einige Zeit später lasse ich mich in meinem alten Zimmer unter dem Dach aufs Bett fallen, und es knarrt tatsächlich so, wie ich es in Erinnerung
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