Seelen der Nacht
Lucas wiedersehen durfte.«
»Sie haben richtig entschieden.«
»Wirklich?« Ysabeau schüttelte den Kopf. »Nicht einmal heute bin ich mir da wirklich sicher. Philippe erklärte mir, ich müsse selbst entscheiden, ob ich Matthew zu einem aus unserer Familie machen wolle. Ich hatte mit meinem Blut schon öfter Vampire gezeugt und würde nach ihm noch weitere zeugen. Trotzdem war Matthew anders als die Übrigen. Ich mochte ihn, und ich wusste, dass die Götter mir die Chance gaben, ihn zu meinem Kind zu machen. Ich wäre dafür verantwortlich, ihm zu zeigen, was es bedeutet, ein Vampir zu sein.«
»Hat sich Matthew gewehrt?« Ich musste die Frage einfach stellen.
»Nein«, erwiderte sie. »Er war vor Schmerzen nicht mehr bei sich.
Wir schickten alle anderen weg und behaupteten, wir würden einen Priester holen. Was wir natürlich nicht taten. Philippe und ich gingen zu Matthew und erklärten ihm, dass wir ihm das ewige Leben schenken würden, ein Leben ohne Schmerz und ohne Leiden. Viel später erzählte Matthew uns, dass er damals geglaubt hatte, Johannes der Täufer und die Heilige Mutter Gottes seien zu ihm getreten, um ihn zu seiner Frau und seinem Kind in den Himmel zu holen. Als ich ihm mein Blut darbot, glaubte er, ich sei der Priester und würde ihm die Letzte Ölung geben.«
Im Raum waren nur mein leiser Atem und das Knistern der Scheite im Kamin zu hören. Ich wollte von Ysabeau in allen Einzelheiten erfahren, wie sie Matthew zum Vampir gemacht hatte, aber ich hatte Angst zu fragen, denn möglicherweise sprachen Vampire ungern über solche Sachen. Vielleicht war das zu intim oder zu schmerzhaft. Doch Ysabeau erzählte es mir auch so.
»Er nahm mein Blut so mühelos an, als wäre er dafür geboren«, erklärte sie mit einem rasselnden Seufzer. »Matthew gehörte nicht zu den Menschen, denen es vor dem Anblick oder dem Geruch von Blut graut. Ich riss mit meinen Zähnen mein Handgelenk auf und versprach ihm, dass mein Blut ihn heilen würde. Er trank seine Erlösung ohne jede Angst.«
»Und danach?«, flüsterte ich.
»Danach war er… schwierig«, antwortete Ysabeau abwägend. »Alle frisch gezeugten Vampire sind kräftig und hungrig, aber Matthew war kaum zu kontrollieren. Er tobte vor Wut, dass er zum Vampir geworden war, und sein Hunger nach Blut war unersättlich. Wochenlang mussten Philippe und ich täglich für ihn auf die Jagd gehen, um ihn zu stillen. Außerdem veränderte sich sein Körper stärker, als wir erwartet hatten. Wir werden alle größer, feingliedriger, kräftiger. Aber Matthew verwandelte sich aus einem gertendünnen Menschen in ein wahrhaft ehrfurchtgebietendes Geschöpf. Mein Mann war größer als er, doch als mein Blut erstmals durch Matthews Adern schoss, konnte selbst Philippe ihn kaum bändigen.«
Ich zwang mich, keine Angst vor Matthews Hunger und Zorn zu
bekommen. Stattdessen starrte ich seine Mutter an und schloss nicht ein einziges Mal die Augen, um mich gegen das Wissen zu wehren. Denn genau das fürchtete Matthew: Dass ich begreifen würde, wer er gewesen war – wer er immer noch war – und mich angewidert abwenden könnte.
»Was hat ihn schließlich zur Ruhe gebracht?«, fragte ich.
»Philippe ging mit ihm jagen«, erklärte Ysabeau, »sobald er halbwegs überzeugt war, dass Matthew nicht mehr alles töten würde, was ihm in den Weg kam. Das Fährtensuchen hielt seinen Geist auf Trab, und die Hetzjagd hielt seinen Körper auf Trab. Bald war für ihn die Jagd wichtiger als das Blut, was bei einem jungen Vampir immer ein gutes Zeichen ist. Es zeigte uns, dass er nicht mehr ausschließlich von seinem Hunger gesteuert wurde, sondern wieder vernünftigen Argumenten zugänglich war. Danach war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sein Gewissen erwachte und er nicht mehr unüberlegt tötete. Fortan mussten wir nur noch die schwarzen Stunden fürchten, in denen er besonders innig um Blanca und Lucas trauerte und sich über Menschen hermachte, um seinen Hunger zu dämpfen.«
»Gab es damals irgendwas, das ihm geholfen hat?«
»Manchmal sang ich ihm etwas vor – unter anderem das Lied, das ich Ihnen heute Abend vorgesungen habe. Damit ließ sich die Trauer oft lindern. Manchmal verschwand Matthew auch einfach. Philippe verbot mir, ihm zu folgen oder ihm Fragen zu stellen, wenn er zurückkam.« Ysabeau sah mich mit schwarzen Augen an. Unsere Blicke bestätigten, was wir beide vermuteten: dass Matthew zu Frauen geflüchtet war und Trost in ihrem Blut und der
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