Seelen der Nacht
Stimmung in ihrem Haus herrschte, nachdem sie so viele Kinder noch vor ihrem ersten Atemzug sterben sehen mussten.« Ich war nicht sicher, ob Vampire weinen konnten, doch ich musste an die blutige Träne denken, die ich in meinen Visionen im Salon auf Ysabeaus Wange gesehen hatte. Doch auch tränenlos sah sie aus, als würde sie weinen, und ihr Gesicht war zu einer Maske des Bedauerns erstarrt.
»Schließlich bekam Blanca nach jahrelangen vergeblichen Versuchen ein Kind. Das war 531. Was für ein Jahr. Im Süden war ein neuer König gekrönt worden, und das Schlachten hatte wieder eingesetzt. Matthew begann allmählich glücklich auszusehen, als wagte er tatsächlich zu hoffen, dass dieses Kind überleben würde. Und das tat es. Lucas kam im Herbst zur Welt und wurde in der halb fertigen Kirche getauft, an der Matthew mitbaute. Es war eine schwere Geburt gewesen. Die Hebamme prophezeite, dass es das letzte Kind sei, das Blanca gebären würde. Matthew allerdings war mit Lucas glücklich. Und Lucas sah
seinem Vater so ähnlich mit seinen schwarzen Locken und dem spitzen Kinn – und den langen Beinen.«
»Was wurde aus Blanca und Lucas?« All das war nur sechs Jahre vor Matthews Transformation zum Vampir geschehen. Etwas musste vorgefallen sein, sonst hätte er nie zugelassen, dass Ysabeau sein Leben gegen ein neues eintauschte.
»Matthew und Blanca sahen ihren Sohn wachsen und gedeihen. Matthew hatte inzwischen gelernt, mit Stein statt mit Holz zu arbeiten, und die Adligen von hier bis nach Paris schätzten seine Arbeit. Dann kam das Jahr 536. Das Vorjahr war eigenartig gewesen, die Sonne hatte kaum geschienen, und der Winter war eisig. Mit dem Frühling hielt die Krankheit Einzug und nahm Blanca und Lucas mit sich fort.«
»Rätselten die Dorfbewohner nicht, warum Sie und Philippe gesund blieben?«
»Natürlich. Aber damals gab es dafür mehr Erklärungen, als es heute geben würde. Die Menschen glaubten lieber, dass Gottes Zorn das Dorf gestraft hatte oder dass das Schloss verflucht sei, als dass Manjasang unter ihnen lebten.«
»Manjasang?« Ich versuchte die Silben in meinem Mund zu rollen, wie Ysabeau es getan hatte.
»Das Wort der alten Sprache für Vampire – Blutesser. Einige ahnten die Wahrheit und sprachen flüsternd am Ofen davon. Aber in jenen Tagen ängstigten sich die Menschen eher vor einer möglichen Rückkehr der ostgotischen Krieger als vor der Vorstellung, einem Manjasang zu dienen. Philippe versprach, das Dorf zu schützen, falls die Plünderer zurückkämen. Außerdem achteten wir darauf, nie in unserer Umgebung Beute zu machen«, erklärte sie grimmig.
»Was tat Matthew, als Blanca und Lucas gestorben waren?«
»Er trauerte. Er war untröstlich. Er aß nichts mehr. Er sah aus wie ein Skelett, und das Dorf rief uns um Hilfe an. Ich brachte ihm Speisen« – Ysabeau lächelte Marthe an –, »zwang ihn zum Essen und ging mit ihm herum, bis er nicht mehr ganz so rastlos war. Wenn er nicht schlafen konnte, gingen wir in die Kirche und beteten für die Seelen von Blanca und Lucas. Matthew war damals tief religiös. Wir sprachen
über Himmel und Hölle, denn er ängstigte sich, wo ihre Seelen sein könnten und ob er sie je wiederfinden würde.«
Matthew reagierte so fürsorglich, wenn ich in nackter Angst aus dem Schlaf schreckte. Waren die Nächte vor seiner Verwandlung zum Vampir ähnlich schlaflos gewesen wie die danach?
»Als der Herbst kam, schien er endlich neue Hoffnung zu schöpfen. Doch der Winter war schwer. Die Menschen hungerten, und die Krankheit setzte ihnen weiter zu. Überall wartete der Tod. Nicht einmal der Frühling vertrieb die düstere Stimmung. Philippe wollte die Kirche um jeden Preis fertigstellen, und Matthew arbeitete schwerer als je zuvor. Anfang der zweiten Juniwoche fand man ihn unter der Kuppeldecke auf dem Boden liegend, mit zerschmetterten Beinen und gebrochenem Rückgrat.«
Bei der Vorstellung, wie Matthews weicher, menschlicher Körper auf dem harten Stein aufprallte, stockte mir der Atem.
»Diesen Sturz konnte er natürlich unmöglich überleben«, sagte Ysabeau leise. »Er lag im Sterben. Einige Steinmetze meinten, er sei ausgerutscht. Andere glaubten, dass Matthew in den Tod gesprungen sei, und sprachen schon davon, dass er als Selbstmörder nicht auf dem Friedhof beigesetzt würde. Ich konnte ihn doch nicht in der Angst sterben lassen, möglicherweise nicht erlöst zu werden, wo für ihn doch nur zählte, dass er eines Tages Blanca und
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