Seelen der Nacht
um. »Das hier hat mir Matthew geschenkt. Er riss das Bollwerk ein, das sein Vater gebaut hatte, und ersetzte es durch eine neue Burg.« Ihre grün-schwarzen Augen funkelten fröhlich. »Philippe war außer sich vor Wut. Aber es war Zeit, etwas zu verändern. Das erste Château war eine Holzkonstruktion, und obwohl über die Jahre Anbauten aus Stein angefügt worden waren, sah es ein bisschen heruntergekommen aus.«
Ich gab mir Mühe, die Ereignisse zeitlich einzuordnen, angefangen von der Errichtung der ersten Burg und des Dorfes im sechsten Jahrhundert bis zu Matthews Turmbau im dreizehnten Jahrhundert.
Ysabeau rümpfte abfällig die Nase. »Später klebte er diesen Turm hinten an den Bau, weil er nach seiner Heimkehr nicht so nah bei der Familie sein wollte. Mir hat das Ding nie gefallen – mir kommt es vor wie eine romantische Spielerei.« Sie zuckte mit den Achseln. »Ein komischer Turm. Für die Verteidigung der Burg war er völlig überflüssig. Ohnehin schon hatte Matthew mehr Türme gebaut, als wir gebraucht hätten.«
Ysabeau spann weiter an ihrer Geschichte und schien dem einundzwanzigsten Jahrhundert zunehmend entrückt.
»Matthew wurde in dem Dorf geboren. Er war von Anfang an ein so kluges und so neugieriges Kind. Er trieb seinen Vater zum Wahnsinn,
weil er ihm zum Château nachlief und dort mit den Werkzeugen und Stöcken und Steinen spielte. Früher lernten die Kinder schon sehr früh ein Handwerk, aber Matthew war selbst für damalige Verhältnisse frühreif. Kaum konnte er eine Hacke halten, ohne sich damit zu verletzen, wurden ihm die ersten Arbeiten übertragen.«
In meiner Fantasie rannte ein achtjähriger Matthew mit schlaksigen Beinen und graugrünen Augen über die Hügel.
»Ja.« Sie bestätigte lächelnd meine unausgesprochenen Gedanken. »Er war wirklich ein schönes Kind. Und ein schöner junger Mann. Matthew war für damalige Verhältnisse ungewöhnlich groß, wenn auch nicht so groß, wie er als Vampir später wurde.
Und er hatte einen boshaften Humor. Immer tat er so, als wäre etwas kaputtgegangen oder als hätte er keine Anweisungen bekommen, wie er diesen Dachbalken oder jenes Fundament setzen sollte. Philippe war vernarrt in den Jungen und glaubte jede noch so unglaubliche Geschichte, die Matthew ihm auftischte«, sagte Ysabeau mit einem milden Lächeln. »Matthews erster Vater starb, als Matthew nicht einmal zwanzig war, und seine Mutter war damals schon zehn Jahre tot. Er war allein, und wir machten uns Sorgen, ob er eine Frau finden würde, um eine Familie zu gründen.
Und dann traf er Blanca.« Ysabeau hielt inne und sah mich lange und offen an. »Sie haben doch nicht geglaubt, dass es in seinem Leben keine Liebe gegeben hat.« Es war eine Feststellung, keine Frage. Marthe warf Ysabeau einen bösen Blick zu, blieb aber still.
»Natürlich nicht«, antwortete ich ruhig, obwohl mir schwer ums Herz wurde.
»Blanca war kurz zuvor ins Dorf gekommen, als Dienstmagd eines der Steinmetzmeister, die Philippe aus Ravenna geholt hatte, damit sie die erste Kirche bauten. Sie war so blass, wie ihr Name es vermuten ließ – weiße Haut, Augen wie der Frühlingshimmel und Haar wie gesponnenes Gold.«
Als ich Matthews Computer holen gegangen war, war eine bleiche, wunderschöne Frau in meinen Visionen aufgetaucht. Ysabeaus Beschreibung von Blanca passte perfekt auf sie.
»Sie hatte ein bezauberndes Lächeln, nicht wahr?«, flüsterte ich.
Ysabeaus Augen wurden groß. »O ja, das hatte sie.«
»Ich weiß. Ich habe sie gesehen, als sich das Licht in Matthews Arbeitszimmer in seiner Rüstung brach.«
Marthe gab einen warnenden Laut von sich, aber Ysabeau erzählte weiter.
»Manchmal kam mir Blanca so zerbrechlich vor, dass ich Angst hatte, sie könnte zerspringen, wenn sie Wasser aus dem Brunnen schöpfte oder Gemüse erntete. Mein Matthew fühlte sich von dieser Zerbrechlichkeit angezogen, nehme ich an.« Ysabeaus Augen huschten kurz über meinen ganz und gar nicht zerbrechlichen Körper. »Sie heirateten, als Matthew fünfundzwanzig war und eine Familie ernähren konnte. Blanca war damals gerade neunzehn.
Natürlich waren die beiden ein wunderschönes Paar. Matthews dunkle Aura und Blancas bezaubernde Blässe bildeten einen faszinierenden Kontrast. Sie liebten einander über alles, und ihre Ehe war ausgesprochen glücklich. Sie schienen nur keine Kinder bekommen zu können. Blanca hatte eine Fehlgeburt nach der anderen. Ich will mir gar nicht ausmalen, was für eine
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