Seelen der Nacht
bemerkbar? Erst der Wind, dann die Visionen und jetzt das Wasser.« Mich schauderte.
»Was für Visionen?« Ysabeau konnte ihre Neugier nicht verhehlen.
»Hat Matthew das nicht erzählt? In meiner DNA finden sich alle Formen von … Magie.« Das Wort wollte mir nur widerwillig über die Lippen. »Die Analyse hat ergeben, dass ich Visionen bekommen könnte, und prompt haben sie eingesetzt.«
»Matthew würde mir nie erzählen, was Ihre Blutanalyse ergeben hat – ganz bestimmt nicht ohne Ihre Erlaubnis, und wahrscheinlich auch nicht mit Ihrer Erlaubnis.«
»Ich hatte sie erstmals hier im Château.« Ich zögerte. »Wie haben Sie gelernt, sie zu kontrollieren?«
»Matthew hat Ihnen also erzählt, dass ich Visionen hatte, bevor ich zum Vampir wurde.« Ysabeau schüttelte den Kopf. »Das hätte er nicht tun dürfen.«
»Waren Sie eine Hexe?« Das würde vielleicht erklären, warum sie mich nicht leiden konnte.
»Eine Hexe? Nein. Matthew fragt sich manchmal, ob ich vielleicht eine Dämonin war, aber ich bin sicher, dass ich ein gewöhnlicher Mensch war. Auch unter ihnen gibt es Visionäre. Nicht nur magische Geschöpfe sind mit dieser Gabe gesegnet und geschlagen.«
»Haben Sie es irgendwann geschafft, Ihr zweites Gesicht zu kontrollieren?«
»Es wird leichter. Es gibt Warnzeichen. Manchmal nur ganz subtile, aber Sie werden sie erkennen. Außerdem hat mir Marthe geholfen.«
Dies war das Erste, was ich über Marthes Vergangenheit hörte, und ich fragte mich, wie alt die beiden Frauen waren und welch verschlungenes Schicksal sie zusammengeführt hatte.
Marthe stand mit verschränkten Armen neben uns. »Ôc« , sagte sie und sah Ysabeau zärtlich und fürsorglich an. »Es ist leichter, wenn
man die Visionen einfach durch sich hindurchziehen lässt, ohne sich dagegen zu wehren.«
»Ich stehe sowieso zu sehr unter Schock, um mich zu wehren.« Ich musste an die Situation im Salon und in der Bibliothek denken.
»Ihr Körper wehrt sich, indem er in Schock fällt«, erklärte Ysabeau. »Sie müssen versuchen, sich zu entspannen.«
»Es ist schwer, sich zu entspannen, wenn sich Szenen aus der eigenen Vergangenheit mit Bildern von Rittern und Frauen mischen, die man nie zuvor gesehen hat.« Plötzlich musste ich gähnen, dass mir der Kiefer knackte.
»Sie sind zu erschöpft, um sich jetzt den Kopf darüber zu zerbrechen.« Ysabeau erhob sich.
»Ich kann noch nicht schlafen.« Ich erstickte das nächste Gähnen mit dem Handrücken.
Sie fasste mich ins Auge wie ein Falke eine Feldmaus. Dann leuchteten ihre Augen verschmitzt auf. »Wenn Sie ins Bett gehen, erzähle ich Ihnen, wie ich Matthew erschaffen habe.«
Ihr Angebot war zu verlockend, als dass ich es ausschlagen konnte. Gehorsam stieg ich ins Bett, während sie einen Sessel heranzog und Marthe sich mit den Tellern und Handtüchern zu schaffen machte.
»Wo soll ich nur beginnen?« Sie richtete sich in ihrem Sessel auf und starrte in die Kerzenflammen. »Eigentlich fing alles mit seiner Geburt hier im Ort an. Ich kannte ihn schon als kleines Kind, müssen Sie wissen, damals regierte Chlodwig das Land. Philippe, mein Mann, hatte beschlossen, hier zu bauen. Nur darum gibt es das Dorf – dort lebten die Bauern und die Handwerker, die diese Burg und die Kirche erbauten.«
»Warum wollte Ihr Mann ausgerechnet hier bauen?« Ich lehnte mich in die Kissen und winkelte die Knie unter der Decke an.
»Chlodwig hatte ihm dieses Land versprochen, weil er gehofft hatte, dass er Philippe so dazu bringen könnte, für ihn in die Schlacht zu ziehen. Mein Mann versuchte immer, alle Parteien gegeneinander auszuspielen.« Ysabeau lächelte wehmütig. »Und nur die wenigsten durchschauten ihn.«
»War Matthews Vater ein Bauer?«
»Ein Bauer?« Ysabeau sah mich überrascht an. »Nein, er war Zimmermann, genau wie Matthew, bevor er Steinmetz wurde.«
Ein Steinmetz. Die Steine des Turmes waren so nahtlos ineinandergefügt, dass sie keinen Mörtel zu brauchen schienen. Und dann waren da die eigentümlich verschnörkelten Schlote auf dem Torhaus der Old Lodge, die Matthew von einem Handwerker probeweise hatte konstruieren lassen. Seine langen, schlanken Finger waren kräftig genug, um eine Austernschale oder eine Kastanie zu knacken. Ein weiteres Mosaiksteinchen fiel an die richtige Stelle und fügte sich perfekt zu jenem des Kriegers, Wissenschaftlers und Adligen.
»Und seine Eltern arbeiteten am Château?«
»Nicht an diesem Château«, antwortete Ysabeau und sah sich
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