Seelen der Nacht
wie es Siebenjährige gern tun. »Bestraf doch die anderen Hexen und nicht mich!«
Die Welt ist ungerecht, nicht wahr? , fragte meine Mutter.
Ich schüttelte trübsinnig den Kopf.
Sosehr sich Diana auch bemühte, sie konnte die Bänder nicht abschütteln. Im Lauf der Zeit vergaß das Mädchen sie völlig. Und ihre Magie auch.
»Ich würde meine Magie nie vergessen«, widersprach ich.
Meine Mutter zog die Stirn in Falten. O doch, das hast du, flüsterte sie leise. Dann setzte sie ihre Geschichte fort. Viele Jahre später traf Diana einen wunderschönen Prinzen, der in den Schatten zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang lebte.
Das war meine Lieblingsstelle gewesen. Erinnerungen an andere Abende überschwemmten mich. Manchmal hatte ich nach seinem Namen gefragt, oder ich hatte behauptet, ich sei nicht an einem blöden Prinzen interessiert. Meistens hatte ich mich allerdings gefragt, warum jemand mit einer Hexe zusammen sein wollte, die nicht zaubern konnte.
Der Prinz liebte Diana, auch wenn sie scheinbar nicht fliegen konnte. Er sah die Bänder, die sie fesselten und die niemand sonst sehen konnte. Er fragte sich, wozu sie wohl gut seien und was passieren würde, wenn
er sie abnähme. Aber der Prinz hielt es für unhöflich, sie zu erwähnen. Ich nickte mit meinem siebenjährigen Kopf, beeindruckt vom Einfühlungsvermögen des Prinzen, und mein viel älterer Kopf rummste gegen die Steinwand. Trotzdem fragte er sich, warum eine Hexe nicht fliegen wollte, wenn sie es doch konnte.
Dann, sagte meine Mutter und strich mein Haar glatt, kamen drei Hexen in den Ort. Auch sie konnten die Bänder sehen und vermuteten deshalb, dass Diana noch mächtiger war als sie. Sie brachten sie fort in ein düsteres Schloss. Aber die Bänder wollten sich nicht lösen, sosehr die Hexen auch daran zogen und zerrten. Also schlossen die Hexen Diana in einen Raum ein und hofften, dass sie die Bänder vor lauter Angst selbst lösen würde.
»War Diana ganz allein?«
Ganz allein, bestätigte meine Mutter.
»Ich glaube, die Geschichte gefällt mir nicht«, beschwerte ich mich.
Wirst du dann schlafen?
Ich zog meine Kinderdecke hoch, eine Steppdecke aus bunten rechteckigen Flicken, die Sarah vor meinem Besuch in einem Kaufhaus in Syracuse gekauft hatte, und rutschte auf den Boden des Verlieses hinab. Meine Mutter schob mich auf den Steinen zurecht.
»Mama?«
Ja, Diana?
»Ich habe es so gemacht, wie du mir gesagt hast. Ich habe meine Geheimnisse bewahrt – vor allen.«
Ich weiß, dass das schwer war.
»Hast du auch Geheimnisse?« In meinem Kopf rannte ich wie ein Reh durch ein Feld, und meine Mutter folgte mir.
Natürlich, sagte sie, streckte die Hand aus und schnippte mit den Fingern, woraufhin ich durch die Luft schoss und in ihren Armen landete.
»Verrätst du mir eines davon?«
Aber ja. Ihr Mund war meinem Ohr so nahe, dass ihre Lippen mich kitzelten. Du. Du bist mein größtes Geheimnis.
»Aber ich bin doch hier bei dir!«, quietschte ich, wand mich aus ihren Armen und rannte auf den Apfelbaum zu. »Wie kann ich ein Geheimnis sein, wenn ich hier bei dir bin?«
Meine Mutter legte den Finger auf die Lippen und lächelte.
Magie.
30
W o ist sie?« Matthew knallte die Schlüssel des Range Rovers auf den Tisch.
»Wir werden sie finden, Matthew.« Ysabeau bemühte sich um ihres Sohnes willen die Ruhe zu bewahren, aber inzwischen waren fast zehn Stunden vergangen, seit sie im Garten den halb gegessenen Apfel neben einem Weinrautenbüschel gefunden hatten. Seither hatten beide ununterbrochen das Gelände rund um das Château durchkämmt, das Matthew auf der Karte systematisch in Streifen aufgeteilt hatte.
Allen Anstrengungen zum Trotz hatten sie keine Spur von Diana entdeckt und auch ihre Witterung nicht aufnehmen können. Als hätte sie sich in Luft aufgelöst.
»Eine Hexe muss sie mitgenommen haben.« Matthew fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Und ich habe ihr noch versichert, dass ihr nichts passieren kann, solange sie im Château bleibt. Ich hätte nie gedacht, dass die Hexen es wagen würden, hier einzudringen.«
Seine Mutter presste die Lippen zusammen. Dass Hexen Diana entführt hatten, überraschte sie nicht.
Matthew begann wie ein General auf dem Schlachtfeld Befehle zu erteilen. »Wir gehen noch mal los. Ich fahre nach Brioude. Ysabeau, du suchst hinter Aubusson im Limousin. Marthe, du wartest hier, falls sie zurückkommt oder jemand anruft, der etwas weiß.«
Es würden keine Anrufe kommen, soviel
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