Seelen der Nacht
war Ysabeau klar. Hätte Diana irgendwo telefonieren können, hätte sie schon längst angerufen. Und obwohl Matthews bevorzugte Schlachtenstrategie darin bestand, einfach alle Hindernisse niederzumähen, bis er sein Ziel erreicht hatte, war es nicht immer geschickt, so vorzugehen.
»Wir sollten warten, Matthew.«
»Warten?«, fauchte Matthew. »Worauf?«
»Auf Baldwin. Er war in London und hat sich vor einer Stunde auf den Weg gemacht.«
»Ysabeau, wie konntest du ihm das nur erzählen?« Sein älterer Bruder, das wusste Matthew aus Erfahrung, hatte einen ausgeprägten Zerstörungstrieb. Im Lauf der Jahre hatte er diesen Drang erst physisch, dann geistig und schließlich finanziell ausgelebt, nachdem er festgestellt hatte, dass es fast so spannend war, andere in den Ruin zu treiben, wie ein Dorf auszulöschen.
»Als sie weder im Stall noch im Wald war, hielt ich es für das Beste. Baldwin ist in solchen Sachen besser als du, Matthew. Er kann so gut wie alles finden.«
»Ja, Baldwin war immer gut darin, seine Beute aufzuspüren. Damit muss ich nicht mehr nur meine Frau finden. Jetzt muss ich auch sicherstellen, dass er sie nicht vor mir findet.« Matthew griff nach seinem Schlüssel. »Du wartest auf Baldwin. Ich gehe allein los.«
»Sobald er weiß, dass Diana zu dir gehört, wird er ihr nichts mehr tun. Aber als Oberhaupt dieser Familie muss er Bescheid wissen.«
Ysabeaus Worte stießen ihm auf. Sie wusste, wie sehr er seinem älteren Bruder misstraute. Doch dann tat Matthew die Bemerkung mit einem Achselzucken ab. »Sie sind in dein Heim eingedrungen, Maman . Damit haben sie dich beleidigt. Wenn du Baldwin zu Hilfe holen willst, ist das dein gutes Recht.«
»Ich habe Baldwin Dianas wegen gerufen – nicht meinetwegen. Sie darf den Hexen nicht in die Hände fallen, Matthew, auch wenn sie selbst eine Hexe ist.«
Matthew reckte die Nase in die Luft, weil er einen neuen Duft witterte.
»Baldwin«, erklärte Ysabeau überflüssigerweise, und ihre grünen Augen glänzten.
Über ihnen schlug eine schwere Tür, dann folgten wütende Schritte. Matthew versteifte sich, und Marthe verdrehte die Augen.
»Hier unten«, sagte Ysabeau leise. Nicht einmal in der Krise erhob sie die Stimme, sie waren schließlich Vampire.
Baldwin Montclair, wie er in der Finanzwelt hieß, marschierte durch die Halle im Erdgeschoss. Sein kupferrotes Haar leuchtete im Licht der Glühlampen, und seine Muskeln zuckten schnell wie die eines geborenen Athleten. Er hatte von frühester Kindheit an mit dem Schwert trainiert und war bereits vor der Verwandlung in einen Vampir eine beeindruckende Erscheinung gewesen, weshalb sich ihm nach seiner Wiedergeburt kaum einer je in den Weg stellte. Baldwin war schon zu Zeiten der Römer zum Vampir gemacht geworden und Philippes Liebling gewesen. Beide waren aus dem gleichen Holz geschnitzt – sie liebten den Krieg, die Frauen und den Wein, und zwar in dieser Reihenfolge. Trotz dieser liebenswerten Charakterzüge überlebten seine Gegner nur selten lang genug, um von ihren Erfahrungen berichten zu können.
Jetzt richtete er seinen ganzen Zorn gegen Matthew. Die beiden hatten sich von ihrer ersten Begegnung an nicht leiden können, denn sie waren so verschieden, dass sogar Philippe irgendwann die Hoffnung aufgegeben hatte, sie könnten je Freunde werden. Mit bebenden Nüstern versuchte Baldwin den leisen Zimt- und Nelkenduft seines Bruders in der Luft zu wittern.
»Wo zum Teufel steckst du, Matthew?« Seine tiefe Stimme hallte von Glas und Stein wider.
Matthew trat seinem Bruder in den Weg. »Hier, Baldwin.«
Noch ehe er ausgesprochen hatte, hatte ihn Baldwin an der Kehle gepackt. Die Köpfe dicht zusammengesteckt, einer dunkel, der andere hell, schossen sie ans andere Ende der Halle. Matthews Körper krachte gegen eine Holztür, die unter dem Aufprall zersplitterte.
»Wie konntest du dich mit einer Hexe einlassen, obwohl du genau weißt, was sie Vater angetan haben?«
»Sie war noch nicht einmal geboren, als er gefangengenommen wurde.« Matthews Stimme klang gepresst, weil ihm die Stimmbänder zusammengequetscht wurden, aber er zeigte keine Angst.
»Sie ist eine Hexe«, spie Baldwin. »Sie sind alle verantwortlich. Sie wussten genau, wie die Nazis ihn folterten, und unternahmen nichts dagegen.«
»Baldwin!«, wies Ysabeau ihn scharf zurecht, »Philippe hinterließ strikte Anweisungen, dass er nicht gerächt werden dürfte.« Sie hatte das Baldwin schon oft erklärt, doch es schien
Weitere Kostenlose Bücher