Seelen der Nacht
sich meine Finger, als könnten sie über die ganze Auvergne reichen und Matthew wachrütteln.
So hatte der Leichnam meiner Mutter ausgesehen, als er in einem magischen Kreis in Nigeria gelegen hatte. Ich atmete scharf aus und schrie.
Diana, hör mir gut zu. Du wirst dich schrecklich allein fühlen. Unter dem sanften Zureden meiner Mutter wurde ich wieder zum Kind und saß an einem längst vergangenen Augustnachmittag auf der Schaukel im Garten unseres Hauses in Cambridge. Die Luft roch frisch und grün nach gemähtem Gras und nach dem Maiglöckchenduft meiner Mutter. Kannst du tapfer bleiben, obwohl du allein bist? Kannst du das für mich tun?
Jetzt wehte keine linde Augustbrise über meine Haut. Stattdessen schrammte rauer Stein über meine Wange, als ich ihr zunickte.
Satu drehte mich um, und die spitzen Steine schnitten in meinen Rücken.
»Wir tun das nicht gern, Schwester«, erklärte sie bedauernd, »aber uns bleibt nichts anderes übrig. Wenn du Clairmont erst vergessen hast, wirst du verstehen und mir verzeihen.«
Das glaubst auch nur du, dachte ich. Wenn er dich nicht umbringt, werde ich dich bis an dein Lebensende verfolgen, sobald ich hier weg bin.
Mit ein paar geflüsterten Worten ließ Satu mich in der Luft schweben und transportierte mich dann mittels genau dosierter Windstöße aus der Halle und über eine geschwungene Treppe in die Tiefen der Burg. Sie lenkte mich durch die uralten Verliese. Etwas raschelte hinter mir, und ich drehte den Kopf, um festzustellen, was das war.
Geister – Dutzende von Geistern – folgten uns traurig und ängstlich in einer gespenstischen Trauerprozession. Trotz ihrer Kräfte schien Satu die Toten um uns herum nicht zu sehen, so wie sie auch meine Mutter nicht gesehen hatte.
Die Hexe versuchte mit den Händen einen schweren Holzriegel am Boden anzuheben. Ich schloss die Augen und wartete still auf den
Sturz. Stattdessen packte mich Satu am Schopf und zog mein Gesicht über ein dunkles Loch. Eine so ekelhaft nach Tod stinkende Schwade stieg daraus auf, dass die Geister stöhnend zurückwichen.
»Weißt du, was das ist, Diana?«
Zu verängstigt und erschöpft, um auch nur ein Wort herauszubringen, wich ich zurück und schüttelte den Kopf.
»Das hier nennt man eine Oubliette.« Das Wort raschelte von Geist zu Geist weiter. Eine hagere Frau mit uraltem Gesicht begann zu weinen. »Oubliettes sind Kerker, in denen die Gefangenen vergessen wurden. Menschen, die in eine Oubliette gestoßen werden, werden erst verrückt und verhungern dann – falls sie den Aufprall überleben. Es geht sehr tief hinunter. Ohne Hilfe von oben kommen sie nie wieder heraus, und diese Hilfe kommt nie.«
Der Geist eines jungen Mannes mit einer tiefen Wunde quer über die Brust bestätigte Satus Erklärung mit einem Nicken. Fall nicht, Mädchen , sagte er bekümmert.
»Aber wir werden dich nicht vergessen. Ich gehe Verstärkung holen. Einer Hexe aus der Kongregation magst du noch widerstehen, aber keinesfalls allen dreien. Das war bei deinen Eltern nicht anders.« Sie verstärkte ihren Griff, und wir segelten gute zwanzig Meter abwärts zum Grund des Kerkers. Dabei drangen wir so tief in den Berg vor, dass die Felswände ihre Farbe und Struktur änderten.
»Bitte«, bettelte ich, als Satu mich absetzte. »Lass mich nicht hier unten allein. Ich habe keine Geheimnisse, ich weiß nicht, wie ich meine Magie einsetzen kann oder wie ich das Manuskript wieder heraufbeschwören könnte.«
»Du bist Rebecca Bishops Tochter«, sagte Satu. »Du besitzt viele Kräfte – das fühle ich –, und wir werden dafür sorgen, dass sie freigesetzt werden. Wenn deine Mutter hier wäre, würde sie einfach wegfliegen.« Satu sah erst nach oben in die Schwärze über uns und dann auf meinen Knöchel. »Aber du bist nicht wirklich die Tochter deiner Mutter, oder? Nicht so, dass es etwas zu bedeuten hätte.«
Satu ging in die Knie, hob die Arme und stieß sich leicht vom Steinboden des Verlieses ab. Im nächsten Moment schoss sie aufwärts und
verschwand in einem weißblauen Nebel. Hoch über mir klappte die hölzerne Falltür zu.
Hier unten würde mich Matthew nie finden. Inzwischen war jede Spur längst verflogen und unsere Fährte in alle vier Winde verweht. Wenn ich nicht warten wollte, bis mich Satu, Peter Knox und eine unbekannte dritte Hexe aus diesem Verlies zerrten, würde ich mich selbst befreien müssen.
Ich stand auf, legte das ganze Gewicht auf einen Fuß, ging in die Knie, hob
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