Seelen der Nacht
braun angelaufen waren und das durch weitere Lagen Seidenpapier vom Rest des Stapels getrennt war. Darauf standen in krakeliger Spinnenschrift drei Zeilen.
»Es beginnt mit Mangel und Verlangen «, flüsterte ich gegen die Enge in meiner Kehle an. »Es beginnt mit Blut und Angst. «
»Es beginnt mit einem Hexenfund «, vollendete Matthew den Satz, halb über meine Schulter gebeugt.
Nachdem ich den Zettel Matthews ausgestreckten Fingern überlassen hatte, hielt er ihn kurz unter seine Nase und reichte ihn dann schweigend an Sarah weiter. Ich hob die oberste Lage Seidenpapier ab.
In meinem Schoß lag eine der fehlenden Seiten aus Ashmole 782 .
»Jesus«, hauchte er. »Ist es das, wofür ich es halte? Woher hat deine Mutter das?«
»Das erklärt sie in dem Brief«, antwortete ich wie betäubt, den Blick starr auf das grellbunte Bild gerichtet.
Matthew bückte sich und hob das Briefpapier auf, das ich fallen gelassen hatte. »Meine liebste Diana «, las er vor. »Heute bist du sieben geworden – ein magisches Alter für eine Hexe, weil sich jetzt eigentlich deine Kräfte regen und Gestalt annehmen sollten. Aber deine Kräfte regen sich schon, seit du geboren wurdest. Du warst schon immer anders. «
Meine Knie bebten unter dem unheimlichen Gewicht des Bildes.
»Dass du dies liest, bedeutet, dass dein Vater und ich es geschafft haben. Wir haben die Kongregation überlisten können, sodass sie die Kräfte deines Vaters suchen – nicht deine. Bitte mach dir deswegen keine Vorwürfe. Wir hatten keine andere Wahl. Wir vertrauen darauf, dass du inzwischen alt genug bist, um das zu verstehen. « Matthew drückte mir sanft die Schulter, bevor er weiterlas.
»› Mittlerweile bist du auch alt genug, um die Jagd fortzusetzen, auf die wir uns begeben haben, als du geboren wurdest – die Jagd nach Erkenntnissen über dich und deine Magie. Als du drei warst, bekamen wir die beigefügte Nachricht und Zeichnung zugeschickt. Sie erreichte uns in einem Umschlag mit israelischer Briefmarke. Die Sekretärin der Fakultät versicherte uns, sie habe keine Absenderadresse und keine Unterschrift entdecken können – nur die Notiz und das Bild.
Während der letzten vier Jahre haben wir versucht, daraus schlau zu werden. Allzu viele Fragen konnten wir nicht stellen. Aber wir glauben, dass das Bild eine Vermählung zeigt. «
»Es zeigt tatsächlich eine Vermählung – die chemische Vereinigung von Quecksilber und Schwefel. Ein entscheidender Schritt, wenn man den Stein der Weisen herzustellen versucht.« Nach Matthews weicher Stimme hörte ich mich schroff an.
Es war eine der schönsten Darstellungen dieser chemischen Vereinigung, die ich je gesehen hatte. Eine Frau mit goldenem Haar und in einem blütenweißen Kleid hielt in einer Hand eine weiße Rose. Die Blume war eine Gabe an ihren blassen, dunkelhaarigen Ehemann und sollte ihm zeigen, dass sie rein und seiner würdig war. Er trug eine schwarz-rote Robe und hielt ihre andere Hand. Auch er hielt in der
freien Hand eine Rose – aber seine war rot wie frisch vergossenes Blut und stand für Liebe und Tod. Hinter dem Paar bevölkerten andere chemische Substanzen und Metalle als Hochzeitsgäste eine Landschaft aus Bäumen und felsendurchsetzten Hügeln. Auch eine ganze Menagerie an Tieren hatte sich versammelt, um der Zeremonie beizuwohnen: Raben, Adler, grüne Löwen, Pfauen, Pelikane. Im Hintergrund, in der Bildmitte hinter Braut und Bräutigam, standen ein Einhorn und ein Wolf. Überspannt wurde die Szene von den Schwingen eines Phoenix, aus dessen Federn Flammen schlugen und der den Kopf geneigt hatte, um zu beobachten, was sich unter ihm abspielte.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Em.
»Dass jemand schon lange darauf wartet, dass Matthew und ich zueinanderfinden.«
»Wie soll dieses Bild dich und Matthew darstellen können?« Sarah verdrehte den Kopf, um es genauer zu inspizieren.
»Die Königin trägt Matthews Wappen.« Das Haar der Braut wurde von einem glänzenden silbernen und goldenen Reif zurückgehalten. In der Mitte, genau über ihrer Stirn, war ein Juwel in der Form eines Sichelmondes eingelassen, über dem ein Stern aufging.
Matthew griff an dem Bild vorbei nach dem Brief meiner Mutter. »Macht es dir was aus, wenn ich weiterlese?«, fragte er freundlich.
Kopfschüttelnd blickte ich auf die Seite aus dem Manuskript, die immer noch auf meinem Knie lag. Em und Sarah spürten seine Kraft und ließen die in Gegenwart eines unbekannten
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