Seelen der Nacht
Fragezeichen.
»Gewöhnlich nicht.« Ich lachte und packte ihn am Ärmel, um ihn ins Haus zu ziehen.
Keine Sekunde später hatte Matthew mir den Tee aus der Hand genommen und mich aus Sarahs Stiefeln gehoben. Er richtete meinen Körper aus und stellte sich dann hinter mich. »Sind deine Augen geschlossen?«
»Jetzt schon«, bestätigte ich, machte die Augen zu und bohrte die Zehen durch die Socken in die kalte Erde. In meinem Kopf jagten sich die Gedanken wie verspielte Kätzchen.
»Du denkst immer noch«, ermahnte Matthew mich ungeduldig. »Konzentrier dich auf deinen Atem.«
Mein Geist und mein Atem kamen zur Ruhe. Matthew ging nach vorn, hob meine Arme an und drückte meine Daumen auf die Spitzen von Ringfinger und kleinem Finger.
»Jetzt sehe ich auch aus wie eine Vogelscheuche«, sagte ich. »Was tue ich da mit meinen Händen?«
»Prana mudra«, erklärte Matthew. »Das stärkt die Lebenskräfte und befördert die Heilung.«
Während ich mit ausgebreiteten Armen dastand, die Handflächen dem Himmel zugewandt, breiteten sich Stille und Frieden in meinem geschundenen Körper aus. Nach etwa fünf Minuten löste sich die Anspannung zwischen meinen Augen, mein geistiges Auge öffnete sich, und noch etwas veränderte sich – da war ein Wogen und Fließen in mir wie von Wasser, das ans Ufer eines Sees schlägt. Mit jedem Atemzug bildete sich ein Tropfen kalten, frischen Wassers in meinen Handflächen. Mein Geist blieb vollkommen leer, ich verschwendete keinen Gedanken daran, dass ich in einer Hexenflut ertrinken könnte, auch wenn der Wasserspiegel in meinen Händen langsam anstieg.
Mein geistiges Auge öffnete sich weiter und nahm meine Umgebung auf. Mit einem Mal sah ich die Felder um unser Haus, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Das Wasser floss in tiefblauen Adern unter dem Boden dahin. Die Wurzeln der Apfelbäume streckten sich ihnen entgegen, und sogar über die Blätter, die in der Morgenbrise raschelten, zogen sich dünne, schimmernde Wassernetze. Unter meinen Füßen strömte mir das Wasser entgegen, als wollte es verstehen, wie ich mit seiner Kraft verbunden war.
Ruhig atmete ich ein und aus. Der Wasserspiegel in meinen Händen stieg und fiel entsprechend den Gezeiten in und unter mir. Als ich das Wasser nicht länger kontrollieren konnte, brachen die Mudras auf, und das Wasser stürzte aus meinen flach ausgebreiteten Händen.
So stand ich in unserem Garten, mit offenen Augen und ausgebreiteten Armen, während sich unter meinen Händen kleine Wasserpfützen bildeten.
Mein Vampir stand mit stolz verschränkten Armen fünf Meter von mir entfernt. Meine Tanten warteten verdattert auf der Veranda.
»Sehr eindrucksvoll«, murmelte Matthew und bückte sich, um den Becher mit dem inzwischen kalten Tee aufzuheben. »Weißt du, du wirst darin noch genauso gut wie als Wissenschaftlerin. Magie ist nicht nur eine Sache des Gefühls und des Verstandes – sondern auch des Körpers.«
»Hast du schon früher Hexen unterrichtet?« Ich hörte meinen Magen knurren, als ich in Sarahs Gummistiefel stieg.
»Nein. Du bist und bleibst die einzige.« Matthew lachte. »Und ja, ich weiß, dass du Hunger hast. Nach dem Frühstück reden wir weiter.« Er streckte mir die Hand hin, und gemeinsam gingen wir zum Haus.
»Mit Wasserhexerei kannst du viel Geld verdienen, das weißt du hoffentlich«, rief Sarah uns entgegen. »Jeder in der Stadt braucht einen neuen Brunnen, und als der alte Harry letztes Jahr starb, haben wir die Wünschelrute mit ihm beerdigt.«
»Ich brauche keine Wünschelrute – ich bin eine Wünschelrute. Und wenn ihr einen Brunnen graben wollt, dann am besten da drüben.« Ich deutete auf ein paar Apfelbäume, die nicht ganz so struppig aussahen wie die übrigen.
Im Haus machte Matthew mir erst Tee, bevor er sich der Lektüre des Syracuse Post-Standard widmete. Die Zeitung konnte kaum mit Le Monde mithalten, aber sie schien ihm zu genügen. Solange mein Vampir beschäftigt war, futterte ich eine Scheibe heißen Toast nach der anderen. Em und Sarah schenkten sich neuen Kaffee ein und sahen mir jedes Mal argwöhnisch auf die Finger, wenn ich einem Elektrogerät nahekam.
»Das wird ein Drei-Kannen-Morgen«, verkündete Sarah und kippte den Kaffeesatz aus der Maschine. Erschrocken sah ich Em an.
Er ist mehr oder weniger koffeinfrei, sagte sie ohne zu sprechen, die Lippen in stillschweigender Schadenfreude zusammengepresst. Den
schiebe ich ihr schon seit Jahren unter. Solche wortlosen
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