Seelen der Nacht
auf mich zu.
»Es will etwas von Diana«, bemerkte Emily überflüssigerweise.
Das Haus wollte vielleicht etwas von mir, doch es konnte nicht ahnen, dass sich ein Vampir mit ausgeprägtem Beschützerinstinkt und unglaublichen Reflexen einmischen würde. Matthews Fuß schoss vor und hielt den Sessel auf, bevor er mir von hinten in die Kniekehlen schlagen konnte. Das Holz schlug krachend auf dem starken Knochen auf.
»Keine Sorge, Matthew. Das Haus will nur, dass ich mich hinsetze.« Ich tat es und wartete ab.
»Das Haus sollte lernen, sich zu benehmen«, schoss er zurück.
»Wo kommt Moms Schaukelstuhl her? Wir haben ihn doch vor Jahren weggetan«, sagte Sarah schmallippig und wies auf den alten Stuhl neben dem großen Fenster.
»Der Schaukelstuhl ist wieder da, genau wie Grandma«, erklärte ich ihr. »Sie hat uns gleich nach unserer Ankunft begrüßt.«
»War Elizabeth bei ihr?« Em ließ sich auf dem unbequemen viktorianischen Sofa nieder. »Groß? Ernstes Gesicht?«
»Ja. Allerdings bekam ich sie nicht richtig zu sehen. Sie blieb die meiste Zeit hinter der Tür.«
»Die Geister lassen sich in letzter Zeit nur noch selten blicken«, sagte Sarah. »Wir halten sie für eine entfernte Cousine der Bishops, die irgendwann um 1870 starb.«
Ein grünes Wollknäuel mit zwei Stricknadeln kam den Kamin heruntergeschossen und rollte durch die Feuerstelle.
»Meint das Haus, ich sollte zu stricken anfangen?«, fragte ich.
»Das ist meins – ich habe vor Jahren angefangen, einen Pullover zu stricken, aber eines Tages war er verschwunden. Das Haus nimmt alles Mögliche an sich und behält es dann«, erklärte Emily Matthew, während sie ihre alte Handarbeit aufhob. Sie klopfte auf das grässliche Blumenmuster der Sofapolster. »Setz dich zu mir. Manchmal braucht das Haus länger, bevor es zum Wesentlichen kommt. Außerdem vermissen wir noch ein paar Fotos, ein Telefonbuch, die Geflügelplatte und meinen liebsten Wintermantel.«
Wie nicht weiter verwunderlich, hatte Matthew Schwierigkeiten, sich zu entspannen, nachdem immerhin die Möglichkeit bestand, von einer Geflügelplatte enthauptet zu werden, aber er gab sich redlich Mühe. Sarah setzte sich verdrossen auf einen Windsor-Stuhl.
»Jetzt mach schon, raus damit«, bellte sie nach ein paar Minuten. »Ich habe noch was anderes zu tun.«
Ein dicker brauner Umschlag schob sich neben dem Kamin durch einen Spalt in der grün lackierten Wandvertäfelung. Nachdem er sich befreit hatte, schoss er durch die Luft und landete, mit der Aufschrift nach oben, in meinem Schoß.
»Diana « hatte jemand mit blauem Kugelschreiber daraufgekritzelt. Ich erkannte die kleine, feminine Handschrift meiner Mutter von vielen Entschuldigungszetteln und Geburtstagskarten wieder.
»Er kommt von Mom.« Ich sah Sarah erstaunt an. »Was ist da drin?«
Sie war genauso verblüfft wie ich. »Ich habe keine Ahnung.«
Im Umschlag lagen ein weiterer Umschlag und ein Gegenstand, der mehrmals sorgsam in Seidenpapier eingeschlagen war. Der kleine Umschlag war hellgrün mit dunkelgrünem Rand. Mein Vater hatte mir geholfen, ihn für den Geburtstag meiner Mutter auszusuchen. In die Ecke war leicht erhaben ein grün-weißer Maiglöckchenstrauß geprägt. Meine Augen füllten sich mit Tränen.
»Sollen wir dich allein lassen?«, fragte Matthew ruhig und war schon aufgestanden.
»Bleib. Bitte.«
Zitternd riss ich den Umschlag auf und faltete die darin liegenden Blätter auf. Sofort sprang mir das Datum unter den Maiglöckchen ins Auge – der 13. August 1983.
Mein siebter Geburtstag. Es war wenige Tage vor der Abreise meiner Eltern nach Nigeria gewesen.
Ich galoppierte durch die erste Seite des Briefes. Das Blatt fiel mir aus den Fingern, trudelte zu Boden und kam vor meinen Füßen zu liegen.
Ich konnte Ems Angst spüren. »Diana? Was ist denn?«
Ohne zu antworten klemmte ich die anderen Seiten unter meinen Schenkel und hob den braunen Umschlag auf, den das Haus für meine Mutter versteckt hatte. Ich zerrte an dem Seidenpapier und zog ein flaches, rechteckiges Objekt aus dem Umschlag. Es war schwerer, als es sein sollte, und es kribbelte vor Energie.
Ich erkannte diese Energie, denn ich hatte sie schon einmal gespürt.
Matthew hörte, wie mein Blut zu singen begann. Er trat hinter mich und legte die Hände auf meine Schultern.
Ich faltete das Seidenpapier auf. Zuoberst lag, fast als wollte es Matthews Blick abwehren, ein gewöhnliches Blatt Papier, dessen Ränder nach all den Jahren
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