Seelen der Nacht
hast. Dann wieder an dem Tag, an dem Sarah mir beibringen wollte, eine Kerze anzuzünden, und ich aus der Rezeptur direkt in den Apfelgarten getreten bin. Beide Male habe ich nur den Fuß gehoben, mich an einen anderen Ort gewünscht und den Fuß genau dort abgesetzt, wo ich hinwollte.«
»Das klingt wirklich nach einer Zeitwanderung«, sagte Sarah langsam. »Natürlich bist du nicht weit gereist – und hast nichts dabei getragen.« Sie maß mit Blicken Matthews Statur und sah mich dann zweifelnd an.
Jemand klopfte an die Tür. »Kann ich reinkommen?«, hörten wir Sophies gedämpfte Stimme.
»Kann sie, Matthew?«, fragte Em.
»Solange sie Diana nicht berührt.«
Als Em die Tür öffnete, strich Sophie beruhigend mit beiden Händen über ihren Bauch. »Alles wird gut«, verkündete sie fröhlich von der Türschwelle aus. »Solange Matthew eine Verbindung zu dem Ort hat, an den sie reisen, wird er Diana nicht zusätzlich belasten, sondern ihr im Gegenteil helfen.«
Hinter Sophie tauchte Miriam auf. »Passiert hier irgendwas Interessantes?«
»Wir unterhalten uns gerade übers Zeitwandern«, erklärte ich ihr.
»Wie willst du üben?« Miriam schob sich an Sophie vorbei und drückte sie energisch in den Flur zurück, als Sophie ihr folgen wollte.
»Diana wird erst ein paar Stunden in die Vergangenheit wandern und sich dann langsam steigern. Erst vergrößern wir die Zeiträume, dann die Distanz. Danach packen wir Matthew dazu und sehen mal, was passiert.« Sarah sah Em an. »Kannst du ihr helfen?«
»Ein bisschen«, meinte Em vorsichtig. »Stephen hat mir erklärt, wie er es gemacht hat. Er hat nie Zaubersprüche verwendet, um in der Zeit zurückzuwandern – er hatte auch so genug Energie. Nachdem Diana schon so früh mit ihren Zeitwanderungen angefangen hat und sich keine Zaubersprüche merken kann, hielte ich es für klug, seinem Beispiel zu folgen.«
»Warum gehst du nicht mal mit Diana in die Scheune und probierst es aus?«, schlug Sarah freundlich vor. »Von dort aus könnte sie direkt in die Rezeptur zurückkommen.«
Als Matthew uns nachgehen wollte, hielt ihn Sarah mit einer Hand zurück. »Du bleibst hier.«
Matthews Gesicht war wieder aschfahl geworden. Es gefiel ihm gar nicht, wenn ich in einen anderen Raum verschwand, von einer anderen Zeit ganz zu schweigen.
In der Hopfenscheune hing immer noch der süße Geruch längst vergangener Ernten. Em baute sich mir gegenüber auf und erteilte mir mit leiser Stimme Anweisungen. »Steh so still wie möglich«, sagte sie, »und leere deinen Geist.«
»Du klingst wie meine Yogalehrerin«, sagte ich und ordnete meine Arme und Beine zur vertrauten Bergstellung an.
Em lächelte. »Ich fand schon immer, dass Yoga und Magie viel gemeinsam haben. Jetzt schließ die Augen. Denk an die Rezeptur, die du gerade verlassen hast. Du musst lieber dort als hier sein wollen.«
Ich schuf den Destillierraum in meinem Geist nach, stattete ihn mit Objekten, Düften, Wesen aus. Dann stutzte ich. »Und wo wirst du sein?«
»Das hängt davon ab, wann du ankommst. Wenn du ankommst, bevor wir aufgebrochen sind, bin ich dort. Wenn nicht, bin ich hier.«
»Irgendwie ergibt das physikalisch keinen Sinn.« Plötzlich wollte mir nicht in den Kopf, wie das Universum mit mehreren Dianas und
Ems zurande kommen sollte – von mehreren Miriams und Sarahs mal ganz abgesehen.
»Hör auf, dir darüber den Kopf zu zerbrechen. Wie hat dein Vater geschrieben? Wer sich nicht mehr wundern, nicht mehr staunen kann, der ist sozusagen tot.«
»Ziemlich gut getroffen«, gab ich unwillig zu.
»Es ist Zeit, dich ins Mysteriöse vorzuwagen, Diana. Magie und Wunder waren von jeher dein Anrecht, und beides wartet auf dich. Und jetzt stell dir vor, wo du am liebsten sein möchtest.«
Als in meinem Geist ein festes Bild Gestalt angenommen hatte, hob ich den Fuß.
Als ich ihn wieder absetzte, stand ich neben Em in der Hopfenscheune.
»Es hat nicht funktioniert«, stellte ich in Panik fest.
»Weil du dich zu sehr auf die Details des Raumes konzentriert hast. Denk an Matthew. Möchtest du nicht bei ihm sein? Magie ist keine Kopfsache, sondern eine Sache des Herzens. Es geht dabei nicht um irgendwelche Worte oder richtig ausgeführte Rituale wie bei der Hexerei. Du musst sie spüren.«
»Verlangen.« Ich sah vor mir, wie ich die Notes and Queries aus dem Regalfach gezogen hatte, und spürte wieder, wie mich Matthews Lippen in seinem Apartment im All Souls zum ersten Mal berührt hatten.
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