Seelen der Nacht
Fuß.
Aber mit Matthew zeitzuwandern war anders. Mit ihm an meiner Seite bewegte ich mich langsamer und bekam darum zum ersten Mal wirklich mit, was eigentlich geschah.
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umwoben uns in einem schimmernden Spinnennetz aus Licht und Farben. Jeder Strang in diesem Netz bewegte sich ganz langsam, beinahe unmerklich, und berührte dabei andere Fäden, bevor er sich wieder entfernte, so als würde er von einer sanften Brise weggeweht. Jedes Mal, wenn sich zwei Stränge berührten – und es berührten sich ständig Millionen davon –, war das leise Echo eines unhörbaren Ur-Lautes zu vernehmen.
Die scheinbar unendlichen Möglichkeiten vor uns lenkten uns kurzzeitig so ab, dass wir um ein Haar den gezwirbelten rot-weißen Zeitstrang aus den Augen verloren hätten, dem wir folgten. Ich konzentrierte mich wieder darauf, weil ich wusste, dass nur er uns an unseren ersten Abend in Madison zurückbringen würde.
Ich setzte den Fuß ab und spürte raue Dielen unter meinen nackten Sohlen.
»Du hast gesagt, es würde ganz schnell gehen«, sagte er heiser. »Mir kam das ganz und gar nicht schnell vor.«
»Nein, diesmal war es anders«, gab ich ihm recht. »Hast du die Lichter gesehen?«
Matthew schüttelte den Kopf. »Da war alles schwarz. Ich fiel, ganz langsam zwar, aber nur deine Hand hat verhindert, dass ich auf dem Boden aufprallte.« Er hob sie an den Mund und küsste sie.
In dem stillen Haus roch es leicht nach Chili, und draußen war es dunkel. »Kannst du mir sagen, wer alles hier ist?«
Seine Nasenflügel bebten, und er schloss die Augen. Dann lächelte er und seufzte glücklich. »Nur Sarah und Em und du und ich. Sonst niemand.«
Ich zog ihn kichernd an mich.
»Aber bald platzt dieses Haus aus allen Nähten.« Matthew vergrub sein Gesicht in meiner Halsbeuge. »Du hast immer noch deinen Verband. Das heißt, wenn wir in die Vergangenheit zurückreisen, bleiben wir trotzdem, wer wir in der Gegenwart sind, und vergessen auch nicht, was dort passiert ist.« Seine kalten Hände schoben sich unter den Saum meines Rollkragenpullovers. »Wie gut bist du mit deinem
wiederentdeckten Talent als Zeitwanderin darin, Zeiträume abzuschätzen?«
Obwohl wir uns in der Vergangenheit alle Zeit der Welt ließen, waren wir in der Gegenwart zurück, bevor Em den Salat angemacht hatte.
»Das Zeitwandern bekommt dir gut, Matthew«, sagte Sarah und begutachtete aufmerksam sein entspanntes Gesicht. Sie belohnte ihn mit einem Glas Wein.
»Danke, Sarah. Ich war in guten Händen.« Er prostete mir zu.
»Freut mich zu hören«, sagte Sarah trocken und klang dabei fast wie meine Geistergroßmutter. Sie warf ein paar Radieschenscheiben in die größte Salatschüssel, die ich je gesehen hatte.
»Wo kommt die her?« Interessiert beugte ich mich über die Schüssel, damit sie meine geröteten Lippen nicht sah.
»Vom Haus«, antwortete Em und verquirlte mit einem Schneebesen das Dressing. »Es macht ihm Spaß, so viele Münder zu stopfen.«
Am nächsten Morgen ließ uns das Haus wissen, dass wir schon wieder Besuch erwarten durften.
Sarah, Matthew und ich diskutierten gerade darüber, ob ich das nächste Mal nach Oxford oder nach Sept-Tours zeitwandern sollte, als Em mit einem Arm voller Wäsche ins Zimmer trat. »Da kommt jemand.«
Matthew legte die Zeitung beiseite und stand auf. »Sehr gut. Ich erwarte eine Lieferung.«
»Es ist keine Lieferung, und es ist auch noch niemand da. Aber das Haus hat sich schon vorbereitet.« Sie verschwand in der Wäschekammer.
»Noch ein Zimmer? Wo hat das Haus es denn angebaut?«, rief Sarah ihr hinterher.
»Neben das von Marcus«, hallte Ems Antwort aus den Tiefen der Waschmaschine.
Wir wetteten darauf, wer es sein würde. Die Tipps reichten von Agatha Wilson bis zu Emilys Freunden aus dem Cherry Valley, die gerne mal unangemeldet zur Halloweenparty des hiesigen Hexenkonvents anreisten.
Am späten Vormittag klopfte jemand energisch an die Tür. Sie öffnete sich einem kleinen, dunkelhaarigen Mann mit intelligenten Augen. Wir erkannten ihn sofort aus zahllosen Fotostrecken über Londoner Promipartys und aus Fernsehpressekonferenzen. Die letzten Zweifel, wer da vor mir stand, wurden durch das vertraute Druckgefühl auf meinen Wangenknochen ausgeräumt.
Unser mysteriöser Gast war Matthews Freund Hamish Osborne.
»Sie müssen Diana sein«, sagte er ohne Begeisterung oder Umschweife und dehnte dabei auf typisch schottische Weise die Vokale. Hamish trug
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