Seelenangst
Denken halten.«
Clara schaute ihn strafend an. In diesem Augenblick klingelte wieder ihr Handy.
32
Es war früh am Morgen.
Isabel Venturas erwachte.
Am Ende des großen Raumes sah sie einen festlich gedeckten Tisch mit weißer Tischdecke, dazu silbernes Besteck, einen großen Teller, eine dekorativ gefaltete Stoffserviette, ein funkelndes Weinglas und eine Karaffe mit Rotwein.
Daneben ein Scheinwerfer, eine Kamera und eine Leinwand auf einem Stativ.
Was soll das? Eine Überraschung?
Aber die Ärzte wussten doch, dass sie in der Schwangerschaft keinen Alkohol trinken durfte.
Dann öffnete sich die Tür.
Der Mann, den sie sah, trug einen weißen Arztkittel und schob einen silbernen Servierwagen vor sich ins Zimmer, der mit einer weißen Decke abgedeckt war, als würde sich darunter etwas befinden, das Isabel Venturas nicht sehen sollte.
Noch nicht.
Seltsamerweise trug der Mann eine schwarze Brille, sodass Isabel nichts von seinen Augen sehen konnte. Ein kurzer grauer Bart umrahmte seinen grausam zusammengekniffenen Mund, als er die Tür mit einem lauten Knall von innen ins Schloss fallen ließ.
»Wer sind Sie?«, fragte Isabel. »Der Arzt?«
Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Fremden.
»Nicht ganz.«
33
Clara sah die vertraute Nummer.
Hermann.
»Wir sind an Venturas dran«, sagte er. »Nicht mehr lange, und wir kennen ihren Aufenthaltsort. Es muss irgendwo in der Nähe von St. Moritz sein. Wir haben das GPS ihres Firmenwagens verfolgen können, sind jetzt aber ewig nicht durchgekommen. Offenbar hat jemand verhindert, dass wir ihr Handy lokalisieren. Und in der Firma lag eine falsche Adresse vor. Da ist sie nicht. Bleibt erreichbar, okay? Wir melden uns, sobald wir was wissen.«
»Auf jeden Fall ist die Frau in Gefahr«, sagte Clara mit drängendem Unterton. Die Bilder des bestialisch ermordeten Franco Gayo erschienen wieder vor ihrem inneren Auge. »In höchster Gefahr. Hörst du, Hermann? Dieser Wahnsinnige, dieser Drache, scheint sie als nächstes Opfer auf seiner Liste zu haben.«
»Wir organisieren über Interpol einen Flug in die Schweiz für dich und MacDeath. Gib mir noch mal eure Koordinaten durch. Ein Helikopter wird euch abholen. Und wir machen den Schweizer Kollegen die Hölle heiß. In Ordnung?«
»In Ordnung«, sagte Clara. »Hoffentlich ist es noch nicht zu spät.«
Sie stellte das Handy ab und drehte sich zu den drei Männern um.
»Er hat wieder zugeschlagen«, sagte sie. »Wir müssen sofort los.«
Alvaro und Tomasso schauten sie mit großen Augen an.
»Können Sie das mit dem Transport schnell klären?« Clara reichte MacDeath das Handy. Der eilte mit dem Gerät die Treppe hinunter, da auf dem Hof der Empfang besser war. Don Tomasso folgte ihm. Clara blieb noch. Sie verspürte das Bedürfnis, noch zwei, drei Minuten mit Alvaro zu sprechen. Es gab da irgendetwas, was sie ihm noch sagen oder von ihm hören wollte.
Don Alvaro stand eine Zeit lang am Fenster und wandte sich dann zu Clara um.
»Es ist selten«, sagte er, »dass man in diesem Metier eine Frau trifft. Ich habe oft mit der römischen Questura zu tun, wenn es um satanische Ritualmorde geht. Aber die meisten Kommissare dort sind Männer.«
»Und?«, fragte Clara. »Würden Sie sagen, das ist ein Vorteil oder ein Nachteil?«
»Es kann ein Vorteil sein. Auch wenn ich in einem Beruf arbeite, in dem nur Männer tätig sein dürfen.« Er lächelte kurz. »Ich denke, Frauen können die erfolgreicheren Ermittler sein. Sie haben den Vorteil, dass sie besser zuhören können und nicht vorschnell urteilen.«
»Das stimmt«, erwiderte Clara. »Je schneller man urteilt, desto eher kann man auf eine falsche Fährte kommen. Was der Täter natürlich ausnutzt.«
»Täter und Opfer«, sagte Don Alvaro. »Den Opfern, die zu mir kommen, steht die Angst ins Gesicht geschrieben – die Angst, dass das Böse wiederkommt, dass sie sich hinterher an nichts mehr erinnern, dass sie in der Gewalt einer fremden Macht sind.«
»Ich frage mich immer, warum es den einen erwischt, während der andere verschont bleibt«, sagte Clara, halb zu sich selbst, halb zu Don Alvaro. »Obwohl ich noch nie dort war, denke ich dabei immer an die Savanne in Afrika, genauer gesagt an eine Wasserstelle mitten in der Savanne. Antilopen gehen dorthin, um zu trinken. Dann nähert sich ein Löwe. Er hat Hunger, großen Hunger. Und er wittert. Er beobachtet. Er weiß, dass die Antilopen dort sind. Und er weiß, welcher er sich nähern muss, bei welcher
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