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Seelenangst

Seelenangst

Titel: Seelenangst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veit Etzold
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ihn. »Aber eigentlich ist die Perspektive des Opfers wichtiger. Du musst die Szene in deinem Kopf neu erwecken, du musst wissen, wie sich das Opfer gefühlt hat, die Angst, die Reaktion, die Schreie.« Sie merkte gar nicht, dass Sie zum »Du« übergegangen war. »Wie war es, als der Angreifer mit einem Messer oder einer Pistole kam? Wann hat er es getan? Zu welcher Tageszeit? Und wo? Du musst den Schmerz fühlen, wie das Messer eindringt, wie er dem Opfer das Höschen wegreißt, wie er ihm die Beine auseinanderdrückt. Was hat das Opfer in diesem Moment gesehen? Hat es auf irgendeinen Punkt an der Decke gestarrt? Hat es vielleicht etwas hinterlassen, von dem es will, dass es gefunden wird?« Sie verstummte kurz. »Wie mag es überhaupt sein, voller Angst und Schmerz zu schreien, so laut du nur kannst? Du musst es nachempfinden, so intensiv es nur geht, als würdest du es selbst erleben. Wir müssen versuchen, uns das Leiden des Opfers vorzustellen.« Sie zögerte einen Moment. »Denn um den Täter zu fangen, muss man selbst Opfer werden.«
    »Andere retten, indem man selbst leidet, vielleicht sogar stirbt«, sagte Alvaro nachdenklich. Sein Gesicht schimmerte im Licht der ersten Sonnenstrahlen. »Manchmal müssen wir schwächer sein, als wir sind, um etwas zu bewirken, nicht wahr?«
    Clara nickte.
    Sie blickten sich eine Zeit lang an, während die Sonne im Osten zwischen den Wolken hervorkam und die antiken Säulen und Türme im ersten Licht des neuen Tages lange Schatten warfen.
    »Ich kenne Ihre Geschichte nicht«, sagte Don Alvaro schließlich, »aber Sie selbst möchten Opfer werden, um ein anderes Opfer wiedergutzumachen. Da ist etwas in Ihrer Vergangenheit, nicht wahr? Es ist wie ein schwarzer Schatten, der Ihre Sicht verdunkelt.«
    Clara nickte.
    Alvaro streckte die Hand aus und strich ihr sanft über die Wange. Sie merkte, wie sich eine Träne aus ihrem Augenwinkel löste und über ihre Wange rann.
    »Aber gegen manche Dämonen«, fuhr Don Alvaro fort und nahm Claras Hand, »hilft kein Exorzismus. Manche Dämonen kann man nur selbst bekämpfen. Manchmal kann es helfen, schwach zu sein, um stärker zu werden. Manchmal kann es helfen, einfach Gott die Arbeit machen zu lassen.«
    MacDeath kam die Treppe zu ihnen herauf, das Mobiltelefon in der Hand. Tomasso stand hinter ihm, das Gesicht wie versteinert.
    »Das LKA Berlin«, sagte MacDeath. »Sie haben den Aufenthaltsort von Isabel Venturas.«
    »Wo ist sie?«, fragte Clara.
    »In der Privatklinik St. Clemens in der Schweiz. In Sankt Moritz, um genau zu sein. Die Questura stellt uns einen Helikopter zur Verfügung.«
    »Wann ist er da?«
    MacDeath blickte auf die Uhr. »Wenn wir Glück haben, in fünf Minuten.«

34
    »Sind Sie der Arzt?« Die Angst in Venturas’ Stimme ließ sich nicht mehr verbergen.
    »Nicht ganz«, sagte der Mann mit dem weißen Kittel und dem silbernen Wagen, auf dem sich die weiße Decke befand.
    »Wer sind Sie, verdammt?« Isabel versuchte, an das Kopfende ihres Bettes zu rücken, als der Mann sich ihr näherte.
    »Was sehen Sie denn?«, fragte er. »Was sehen Sie?«
    »Was ich sehe?« Sie zitterte, krampfte die Hände zusammen und versuchte aufzustehen.
    »Sie wissen es nicht?«, fragte der Mann. »Dann werde ich Ihnen sagen, was ich sehe.«
    Er näherte sich ihr langsam, wobei er den silberglänzenden Wagen vor sich her schob und mit jedem Schritt einen Satz sprach. Und jeder Satz bewies Isabel Venturas, dass dieser Mann irre war. Irre und mörderisch.
    »Ich sehe«, sagte er und setzte einen Fuß vor den anderen, »ich sehe verlorene Seelen, die im Mahlstrom Satanas’ um Erlösung heulen. Ich sehe«, er machte einen weiteren Schritt, »Leichen fressende Ghuls, die in pestverseuchten Kirchtürmen eiserne Glocken läuten. Ich sehe …« Er hielt einen Moment inne, während Isabel Venturas der Angstschweiß brennend in die Augen lief.
    »Ich sehe ein Zimmer«, fuhr der Mann fort. »Darin zwei Menschen.« Er ging einen weiteren Schritt auf sie zu. »Der eine liegt, der andere nicht.«
    Die Hände des Mannes schossen vor. Er packte Isabels Arme und fesselte sie mit schnellen, geschickten Bewegungen.
    Panik erfasste Isabel. Ihre Angst war alles umschlingend wie eine Grube voll Teer, in die sie geworfen wurde.
    »Der eine schweigt«, sagte der Mann, »der andere spricht.«
    Er hob die weiße Decke von dem silbernen Wagen. Auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck sadistischer Vorfreude.
    »Der eine stirbt, der andere nicht.«
    Isabel

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