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Seelenangst

Seelenangst

Titel: Seelenangst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veit Etzold
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Venturas sah über die Wölbung ihres schwangeren Leibes hinweg die Oberfläche des silbernen Tisches.
    Und auf dem Tisch die Instrumente.
    Ehe Isabel bewusstlos wurde, hörte sie noch einmal die Worte:
    »Der eine stirbt, der andere nicht.«

35
    Der Helikopter landete mit brausenden Rotoren im Gegenlicht der aufgehenden Sonne auf der Piazza vor der großen Mauer. Ein Schwarm Vögel stieg auf und flog in Richtung der rot leuchtenden Kuppel des Petersdoms.
    MacDeath ging mit Don Tomasso voraus, der dem Piloten auf Italienisch ein paar Worte zurief, worauf der Pilot nickte und in sein knackendes Funkgerät sprach.
    Clara schaute auf die schwirrenden Rotorblätter des Helikopters, blinzelte in die aufgehende Sonne und drehte sich zu Don Alvaro um, der vor ihr stand, die Sonnenstrahlen im Gesicht. Seine übernächtigten Augen blickten zum Himmel und richteten sich dann auf Clara. Noch einmal nahm er ihre Hände in seine.
    Auch Clara spürte nun die Müdigkeit nach der durchwachten Nacht, während Tränen ihre Augen füllten. Sie hielt die Hände des alten Priesters fest umklammert.
    »Auch der Apostel Paulus«, sagte Don Alvaro, »wurde von einem Dämonen gepeinigt. Er bat Gott um Linderung.«
    »Und was für eine Antwort bekam er?«
    Alvaro schwieg einen Moment, ehe er antwortete. »Gott sagte: Lass dir an meiner Gnade genügen. Wenn du schwach bist, dann wird die Kraft Christi in dir wohnen.«
    Clara dachte an ihre Schwäche, an das Trauma ihrer Kindheit, an den Verlust ihrer Schwester Claudia. Es war eine Schwäche, die sie in Stärke umzuwandeln versuchte, indem sie Scheusale jagte, die so schreckliche, unaussprechliche Dinge taten wie der Mörder Claudias. Sie dachte an den Drachen, von dem Don Alvaro erzählt hatte. Der Drache, der das Kind Marias gefressen hatte. Der Drache, der ihr auch Claudia genommen hatte. Einen solchen Drachen jagte sie auch jetzt wieder.
    Sie schaute zum Helikopter und sah, wie MacDeath hineinstieg und ihr winkte, ihm zu folgen. Don Tomasso stand unter den wirbelnden Rotorblättern und blinzelte in die Morgensonne.
    Clara wandte sich noch einmal Don Alvaro zu.
    »Manchmal ist es besser«, sagte er, »die Schwäche zuzulassen. Stärke, die du nach außen trägst, kann sich gegen dich wenden.«
    Clara schaute in das Gesicht des Exorzisten, gebadet im Feuer der aufgehenden Sonne, und ließ den Blick dann über den Hügel schweifen, der in sanftes, goldenes Licht getaucht war. Ein letztes Mal drückte Alvaro de la Torrez ihre Hände. Clara konnte seine Stimme im Lärm der Rotorblätter kaum hören, als er sagte: »Gottes Kraft ist in der Schwachheit stark.«
    Clara lächelte ihn an, löste sich von ihm und stieg schweigend in den Hubschrauber, der sich gen Himmel erhob, bis sich ihr der unvergleichliche Blick auf die Kirchen und Kuppeln Roms in der flammenden Pracht der Morgensonne eröffnete.
    Tief unter ihr sah sie das Tal und die Steinbalustrade, in deren Mitte die schwarze Silhouette Don Alvaros stand, der ihnen nachwinkte. Ein einsamer schwarzer Punkt im Gewirr aus Türmen und Zinnen, der immer kleiner wurde und irgendwann verschwand.
    Und sie hörte noch einmal die Worte: »Gottes Kraft ist in der Schwachheit stark.«
*
    Der Helikopter flog nach Norden, durch dunkle Wolken und Schneegestöber, bis er über den unwirtlichen Schweizer Bergen kreiste, die sich wie unbewegliche Kolosse unter der Flugbahn des Helikopters erstreckten. Die Gipfel blitzten teilweise aus den Wolken hervor und erhoben sich über die eisige Wüste aus Schnee und Nebel, als würde sie das Grauen, das sich tief unten abspielte, nichts angehen.
    Clara aber merkte mit jedem Kilometer, den sie zurücklegten, deutlicher, dass das Grauen dort war, dass es sich aufbaute, dass es größer wurde und nur darauf wartete, sie mit Haut und Haaren zu verschlingen.

36
    Die Privatklinik St. Clemens erhob sich majestätisch auf einem Hügel inmitten der hoch aufragenden Berge. Doch der beschauliche Anblick täuschte.
    Sie waren zu spät gekommen. Hinter den Mauern der Klinik hatte sich bereits das Grauen eingenistet.
    Im Keller hatten Clara und die anderen den ersten Schrecken vorgefunden. Man hatte das Personal gefesselt und ihnen die Kehlen durchgeschnitten. Der Boden des Kellers war rutschig von noch handwarmem Blut gewesen. Dem leitenden Oberarzt war die Klinge eines Mörders so tief in den Hals gedrungen, dass sie ihm beinahe den Kopf abgetrennt hatte.
    Doch für diese Opfer hatten sie jetzt keine Zeit. Die Schweizer Polizei

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