Seelenangst
seine Chancen am höchsten sind. Er spürt die Schwäche, die Unsicherheit, die instinktive Angst. Und das Tier, bei dem er es am deutlichsten spürt, sucht er sich aus. Er verfolgt es, fängt es, tötet es und frisst es auf.«
»Und Sie beobachten sozusagen die Wasserstellen in der Großstadt?«
»Leider nicht alle. Ich wünschte, ich hätte die Zeit dazu.« Clara seufzte. »Die heutigen Wasserstellen sind die Shopping Malls, die Geschäftsstraßen, die Parks … all die Orte, an denen man viele Menschen antreffen kann. Und all die Orte, wo man aufgrund der schieren Masse und Anonymität nicht gesehen wird. Denn das ist es, was jeder Jäger will: sehen, aber nicht gesehen werden. Zuschlagen aus dem Dunkel der Nacht, in die er sich dann mit seinem Opfer zurückzieht, als würde es vom Erdboden verschluckt.«
»Manch einer nennt mich einen Dämonenjäger«, sagte Don Alvaro. »Vielleicht sind Sie etwas Ähnliches.«
»Wir könnten uns Seelenjäger nennen«, sagte Clara. »Wir versetzen uns in die Gedankenwelt der Monster. Ich versuche immer, so zu denken wie der Täter. Ich gehe an die Orte, an denen die schrecklichen Dinge geschehen sind, und versuche mir vorzustellen, wer es sein könnte, und wie er sein könnte. Wenn ich der Täter wäre, der Löwe – wen würde ich mir aussuchen? Und manchmal bin ich mir ziemlich sicher, dass ich eines der möglichen Opfer sehe, Menschen, von denen ich glaube, dass sie ein Opfer werden könnten. Manchmal gelingt es mir dann, sie rechtzeitig in Sicherheit zu bringen, meistens aber nicht. Denn welchen Beweis hätte ich, abgesehen davon, dass ich überzeugt bin, dass das potentielle Opfer in höchster Gefahr ist? Weil es langsamer ist als die anderen Antilopen, um bei meinem Vergleich zu bleiben? Weil die Löwen es reißen werden? Vielleicht, weil es so geschehen wird, weil es so geschehen soll?«
»Dann könnten Sie es erst recht nicht verhindern«, sagte Don Alvaro. »Genauso wenig wie ich. Wir können eine Schlacht gewinnen, nicht aber den Krieg. Nicht wir allein.«
Clara nickte. »Die Löwen kommen immer wieder. Sie jagen, sie töten, sie fressen. Würde man eine galvanische Hautreaktion an den Tätern und den Löwen durchführen, würde man sicherlich genau dieselben Impulse messen. Und nicht nur der Hunger treibt sie an, auch die Lust nach Beute und die Gier nach Fleisch.« Sie zögerte, bevor sie weitersprach. »Nur dass unsere Löwen sich manchmal tarnen. Die richtigen Löwen kennen keine Gnade, aber sie handeln wie alle Löwen, ihrer Natur entsprechend. Unsere Löwen tun das nicht.«
Alvaro sah sie aufmerksam an.
»Wir hatten da mal einen Fall«, fuhr Clara fort. »Im Mittelpunkt stand ein ehemaliger Notarztfahrer. Der Mann hatte einen nachgebauten Rettungswagen, eine Uniform, einen Arztkittel, alles. Er war ein Kindermörder. Eines Tages ging er in eine Einkaufsmeile in Berlin-Neukölln. Mit einer schwarzen Maske vor dem Gesicht. Er näherte sich einem kleinen Mädchen und schlug es von hinten bewusstlos. Und dann verschwand er. Die Maske hatte er in einer Tüte verschwinden lassen.«
»Was geschah dann?«, fragte Don Alvaro.
»Die Eltern riefen den Notarzt, und der kam auch sofort und hat das Mädchen mitgenommen. Nur dass der Notarzt kein Notarzt war, sondern …«
Don Alvaro verstand sofort. »Der Mörder?«
»Ja. Der Mann, der das Mädchen vorher bewusstlos geschlagen hatte, damit die Eltern den Notarzt überhaupt erst riefen. Ihn. Er war an Ort und Stelle, bevor der richtige Notarzt kam. Weil er gar nicht angerufen werden musste. Weil er sowieso da war. Deshalb war er schneller als alle anderen. Die Eltern haben dem Killer ins Gesicht geschaut, und er hat ihr Kind mitgenommen … vor ihren Augen. Sie hatten keine Ahnung, und das wusste er, und er hat es genossen. Das Mädchen kam nie zurück.«
Clara schaute nach draußen in die Nacht über der Ewigen Stadt. »Wie ich schon sagte, meine Löwen tarnen sich. Das ist der eine Unterschied. Der andere aber ist viel schlimmer.«
»Sie tun es nicht, weil sie es tun müssen, sondern weil sie es wollen?«, fragte Don Alvaro.
»Ganz genau«, sagte Clara, »echte Löwen töten aus Hunger. Aber Menschen töten aus Lust.«
Sie gingen gemeinsam nach draußen auf den Hof, auf den zaghaft die ersten blassen Strahlen der Morgensonne fielen.
»Sie fangen also die Täter, indem Sie versuchen, sich in sie hineinzuversetzen«, sagte Don Alvaro.
»Auf diese Weise versuche ich, auf den Täter zu kommen«, verbesserte Clara
Weitere Kostenlose Bücher