Seelenangst
des Fahrtwinds, während der Van unter der dünnen, skalpellartigen Sichel des Mondes durch die Nacht glitt und in der Dunkelheit verschwand.
9
Die stärkste Empfindung des Menschen ist die Angst. Und die schlimmste Form der Angst ist die vor dem Unbekannten.
Diese Erkenntnis würden auch die fröhlichsten Optimisten nicht in Abrede stellen, denn während die Liebe uns zu einem Menschen hinzieht, ohne den wir vielleicht nicht leben wollen, aber überleben könnten, hält die Angst uns von Dingen fern, die uns verletzen oder töten können. Ohne Angst würden wir alle nicht alt. Ein richtiger Schritt macht uns zufrieden und stimmt uns froh, ein falscher Schritt aber kann uns töten. So ist die Angst vor dem Schrecken stets größer als die Freude am Schönen.
Und Mandys Angst war abgrundtief.
Clara blickte auf den Monitor in Marquards Büro und auf Mandy Weiss, die als verschnürtes Bündel auf dem Boden ihrer gepolsterten Zelle saß und unzusammenhängend vor sich hin brabbelte. Freese war von Bellmann ebenfalls dazugeschickt worden. Nun stand er da, nestelte an seiner schwarzen Brille und schien nicht so recht zu wissen, was er von Mandy und dem seltsamen Bericht halten sollte. Noch weniger konnte er mit dem rätselhaften Mann im Kapuzenpullover anfangen, der Mandy das seltsame Zeichen gegeben hatte. Kein Wunder also, dass Freese einen ratlosen Eindruck machte, genauso wie Clara und MacDeath. Besonders vor dem Hintergrund, dass der Mann mit dem Kapuzenpullover nach wie vor unauffindbar war und es wohl auch bleiben würde. Was nicht nur daran lag, dass in Neukölln fast alle so herumliefen, sondern dass ihn auch niemand richtig gesehen hatte, denn als Mandy vor dem Einsatzwagen wie ein Stein zu Boden gefallen war, hatte sie alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
Ich habe Angst, hatte sie gesagt. Ich habe so schreckliche Angst.
Niemand wusste, wovor sie sich fürchtete. Und es half auch nicht, sich zu fragen, wovor jemand, der so grauenvolle Morde begangen hatte, überhaupt Angst haben konnte, zumal es in Mandys Fall eine wahnhafte Angst sein konnte.
»Wir haben sie unter Psychopharmaka gestellt«, berichtete Dr. Marquard. »Es ging nicht anders. Wir haben ihr Chlorpromazin verabreicht, einen Dopaminblocker. Hoffen wir, dass es hilft. Weitere Benzodiazepine oder wirksamere Neuroleptika können wir erst verabreichen, wenn wir wissen, ob die Schwankungen in ihrem Verhalten drogeninduziert sind. Sonst können uns die Nebenwirkungen das Leben zur Hölle machen.«
Clara erinnerte sich an Mandys Wutausbrüche. Sie hat uns zuvor schon das Leben zur Hölle gemacht , ging es ihr dabei durch den Kopf.
Neuroleptika. Dopaminblocker. Neuroleptika wirkten über eine Blockade der Dopaminrezeptoren, die besonders bei Halluzinationen, Wahndenken, Verhaltensstörungen und psychomotorischen Störungen aktiv waren. Störungen, die zum Beispiel von Amphetaminen wie Speed und Ecstasy hervorgerufen wurden.
Clara hatte während ihrer Spezialisierung zur Expertin für forensische Pathopsychologie viel über diese Botenstoffe gelernt und mit MacDeath, der sich auf diesem Gebiet hervorragend auskannte, viele Gespräche geführt. Dopamin entstand aus der Aminosäure Tyrosin, die mit der Nahrung aufgenommen wurde. Dopamin war der Stoff, der Tu etwa s zu uns sagt, der zu Aktivität und Action motiviert. Es war eine Vorstufe des Adrenalins, es putschte auf und machte wach, mitunter auch aggressiv. Clara hatte von Banden gehört, die ihre Mitglieder mit Amphetaminen scharf machten. Bei Kampfhunden hatte sie es auch schon erlebt.
Bei einem Dopaminüberschuss wurde der Mensch hyperaktiv und konnte Nächte ohne Schlaf auskommen. Genau das, was Nutzer von Ecstasy, Speed und Kokain wollten. Und sie waren ebenso aufgeputscht wie Schizophrene. Aus diesem Grund verhinderten Psychopharmaka, die Schizophrenie dämpfen sollten, auch die Funktion der Dopaminrezeptoren. Der Patient wurde ruhiger. Hier kam das Serotonin ins Spiel, der Botenstoff, der beruhigte und einem sagte: Es ist gut so . Ein Mangel an Serotonin führte daher zu Ängsten, Unsicherheit und Depression. Deshalb bekamen Patienten mit Depressionen sogenannte SSRIs, selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, die den Serotoninspiegel im Gehirn erhöhten. Der Umkehrschluss dabei war, dass Amphetamine, die Dopamin aktivierten, schizophrene Wirkungen hervorrufen konnten. Deshalb war immer noch nicht klar, ob Mandys Schizophrenie auf Drogen oder auf eine Geisteskrankheit zurückzuführen
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