Seelenangst
nach einem komatösen Schlaf war sie mit einem Mal aufgesprungen, begleitet von fürchterlichem Geheul, hatte die gesamte Inneneinrichtung demoliert und versucht, sich mit scharfkantigen Holzstücken aus der Schrankwand die Pulsadern durchzuschneiden. Gleichzeitig hatte sie Holzteile und Nägel verschluckt, einen der Pfleger angesprungen und ihm einen Brei aus Erbrochenem und Blut ins Gesicht gespuckt.
Wie ein solch kaputter Mensch einen derart gut geplanten Mord an Gayo hätte verüben sollen, war nicht nur MacDeath ein Rätsel. Aber vielleicht war sie es nicht allein gewesen? Schließlich sprach sie ständig von einem »Gott des Mordes«, dem sie gehorchen müsse.
Doch Clara und MacDeath wussten beide, dass Psychopathen sich hervorragend verstellen konnten. Bestimmte Nervenzellen im Gehirn, die sogenannten Spiegelneuronen, sorgten dafür, dass man gähnen musste, wenn jemand anders gähnte. Oder dass man zusammenzuckte und das Gesicht verzog, wenn jemand sich in den Finger schnitt. Spiegelneuronen bewirkten, dass man Empathie und Mitleid empfand. Psychopathen fehlte diese Empathie normalerweise, doch sie konnten sie vortäuschen, wenn es darauf ankam, um genau den Eindruck zu machen, den sie machen wollten und nicht als das zu gelten, was sie waren: Psychopathen.
Marquard hatte Mandy die »Babyfrage« gestellt – eine schnelle Methode, um einen Psychopathen zu klassifizieren. Sie sind in einem Bürgerkriegsgebiet und verstecken sich vor Milizen, die Ihnen nach dem Leben trachten. Die Milizen sind ganz nah. Sie kauern still hinter einer Ecke. Da schreit plötzlich ein Baby in Ihrer Nähe. Was tun Sie?
Die meisten Menschen würden sich bei einer solchen Frage winden, doch der Psychopath antwortet normalerweise ganz direkt: Ich würde das Baby auf der Stelle töten.
Doch Mandy hatte überhaupt nicht geantwortet, hatte nur weitergeschrien. Und noch einmal fragten sich alle, wie eine solche Frau einen solchen Mord begehen konnte – falls sie es gewesen war.
Aber das war nicht die einzige Unklarheit. Was hatte der seltsame Mann mit dem schwarzen Kapuzenpullover getan? Was hatte seine Geste bewirkt? Clara glaubte nicht an schwarze Magie, aber der Mann hatte nichts weiter getan, als zwei Finger parallel zur Nase zu halten, und plötzlich war Mandy steif wie ein Brett zu Boden gefallen. Sie hatte sich die ganze Fahrt über nicht mehr bewegt, hatte nichts mehr gesagt, hatte nicht mehr geschrien. Zwar war ihr Puls noch vorhanden gewesen, aber sie hatte eher wie eine Leiche gewirkt.
»Die Frau verfügt über eine normale Intelligenz«, sagte Marquard. »Die vegetativen Prozesse verlaufen einwandfrei. Kein Zeichen von Schwachsinnigkeit, kein Hirntumor. EEG und MRT sind noch in der Auswertung, ebenso der Drogentest.« Er raschelte mit ein paar Unterlagen. »Vorher haben wir, so gut es ging, ihre Motorik untersucht, die Fähigkeit, Zahlen zu erkennen, ihre Reflexe, die Koordination, die Sprache, die Funktion der Hirnnerven, den Geruchssinn, die Sicht, die Mimik.« Er zeigte auf eine schwarz-weiße Folie an der Wand. »Geröntgt haben wir sie auch.«
»Es könnte also sein, dass sie unter Drogen stand?«, fragte Clara.
»Durchaus möglich«, erwiderte Marquard. »Wir haben ihr Blut abgenommen und werden schauen, ob und welche Drogen sie genommen hat und ob sie ihr Verhalten begründen. Ich vermute die üblichen Verdächtigen: Amphetamine, Barbiturate, Halluzinogene, Opiate, LSD, Kokain und was der Teufel sonst noch alles. Andererseits …«
»Andererseits was?«, fragte Clara.
»Falls sie eine drogeninduzierte Psychose hat, also die Langzeitwirkung einer falschen Dosierung einer Droge, die direkt auf das Gehirn wirkt, kann diese Wirkung unbegrenzt anhalten. Dann können wir zwar keine Substanz nachweisen, aber die Frau führt sich trotzdem so auf, als stünde sie unter Drogen.« Er zeigte auf den Monitor. »Jedenfalls haben wir sie vorsorglich unter Benzos gestellt, damit sie durch die möglichen Entzugserscheinungen nicht noch mehr ausrastet als ohnehin schon.«
Benzos waren Benzodiazepine, extrem starke Beruhigungsmittel, die Schlaf ermöglichten und die Angst nahmen.
»Da ist aber noch eine andere Sache«, fuhr Marquard fort.
»Was meinen Sie damit?«, fragte Clara.
»Das Geschlecht. Frauen sind doppelt so häufig von affektiven Störungen betroffen, Störung im Regelkreis von Nerventransmittern und dergleichen.«
»Und das könnte bewirken, dass jemand tobt wie ein Wilder, um im nächsten Moment stocksteif zu
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