Seelenangst
Gutachter einen Zwanziger, gab es keine Haftstrafe, sondern die Einweisung in den Maßregelvollzug mit anschließender Sicherungsverwahrung. Schaute man sich den extremen Mord an, den Mandy begangen hatte – und dazu ihr gegenwärtiges Verhalten –, könnte auch ihr dieses Schicksal drohen.
Aber das sollten andere entscheiden. Clara wählte die Nummer von Prof. Dr. Albrecht Marquard, dem Leiter der Abteilung für forensische Psychiatrie an der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik in Wittenau im Norden von Berlin. Der Ort, den man LKA-intern auch »Bonnys Ranch« nannte. Dort saßen die Monster, die nie wieder das Tageslicht erblicken würden.
Clara trat nach draußen. Mandy zappelte zwischen Hermann und den MEK-Beamten herum, und noch einmal gellte ein »Er wird euch alle töten!« durch die nasskalte Februarluft.
Plötzlich geschah etwas Unerwartetes.
Mandys Blick richtete sich nach vorne. Hypnotisiert, wie von fremder Hand gesteuert. Dort stand, auf der anderen Straßenseite, ein Mann in einem schwarzen Kapuzenpullover. Er hob den Zeigefinger und bewegte ihn zwischen seine Augen.
In diesem Moment stürzte Mandy zu Boden. Sie fiel wie ein Stein und schlug schwer auf, als wäre sie am ganzen Körper gelähmt. Dann lag sie da und rührte sich nicht mehr.
Clara warf einen Blick auf Hermann und Marc, die die leblose Mandy auf die Beine zogen und ins Innere des Wagens wuchteten. Dann schaute sie wieder zur anderen Straßenseite.
Der Mann war verschwunden.
7
Das menschliche Gehirn macht nur zwei Prozent der Körpermasse aus, verbraucht aber 20 Prozent der gesamten Energie. Aus Sicht des Körpers ist das Hirn ein gefräßiger Parasit, der auch noch von der Hand in den Mund lebt und keinerlei Sauerstoff- und Zuckerreserven hat – im Unterschied zu anderen Organen. Leber und Niere können Minuten bis Stunden ohne Sauerstoff auskommen. Gleiches gilt für die Muskulatur. Das Gehirn dagegen wird bereits irreversibel geschädigt, wenn die Sauerstoffversorgung für nur wenige Minuten ausfällt. Kurz darauf tritt der Hirntod ein, und der Betreffende wird vom Lebenden zur Leiche. Und wenn er berühmt war, vielleicht zur Legende.
*
Professor Dr. Albrecht Marquard, Leiter der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie, war spezialisiert auf Schizophrenie, Suchterkrankungen, Angstpsychosen und affektive Störungen des Nervensystems.
Er hatte buschige Augenbrauen, eine tief gefurchte Stirn und Lippen wie blassrosa Gummibänder. Seine Augen blickten zwischen halb geschlossenen Lidern hervor, als würde er jeden Moment einschlafen, und wenn er sprach, kniff er sich immer wieder in sein Doppelkinn, als müsse er sich ständig wach halten. Doch der Eindruck der Schläfrigkeit täuschte. Das wusste Clara, die in anderen Fällen bereits mit Marquard zu tun gehabt hatte.
Der Maßregelvollzug der Karl-Bonhoeffer-Klinik wirkte von außen wie eine Festung, nur wurde Bonnys Ranch nicht gegen Angriffe von außen, sondern von innen bewacht. Auf sieben Wachtürmen standen Männer mit Gewehren und Maschinenpistolen. Hier saßen die ganz schweren Fälle ein, Serienmörder, Psychopathen, Ritualmörder und Wahnsinnige. Die meisten würden nie wieder aus diesen Mauern herauskommen. »Derrick-Mörder haben wir hier nicht«, hatte einer der Wärter gesagt. Viele waren aufgrund der Sicherungsverwahrung für immer hier, andere kamen eines Tages möglicherweise wieder frei. Und sobald sie draußen die richtigen »Trigger« fanden, war die Zündung wieder eingeschaltet, und die Bombe konnte jederzeit hochgehen.
Clara und MacDeath hatten Dutzende von Schleusen und Gittern passiert, vorbei an dem Herzschlagdetektor, der schlichtweg alles untersuchte, was aus dem Gefängnis heraustransportiert wurde. Wäsche, demolierte Möbel, sogar die Leichen der Männer und – seltener – Frauen, die in der Haft gestorben waren. Versteckte sich ein Häftling in der Fracht, um auf diese Weise nach draußen zu kommen, würden die an der Karosserie des Lastwagens versteckten Sensoren seinen Herzschlag verraten.
»Sie scheint große Angst zu haben«, sagte Dr. Marquard. »Vor was auch immer.«
Clara und MacDeath standen in einem der Überwachungsräume, während ein Monitor die Zelle filmte, in der die Pfleger Mandy Weiss fixiert hatten. Ihnen blieb keine andere Wahl. Erst hatten sie Mandy, die mehrere Stunden lang völlig bewegungslos gewesen war, in eine normale Zelle gesteckt, in der sie so lange bleiben sollte, bis die Untersuchungsergebnisse vorlagen. Doch
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