Seelenangst
Priester vor und flüsterte ihm ein paar Worte ins Ohr, worauf Alvaro sich zu MacDeath und Clara umdrehte. Er musterte sie ein paar Sekunden lang und kam dann auf sie zu.
»Martin Friedrich«, stellte MacDeath sich dem alten Priester vor. »Wir hatten telefoniert. Professor di Silva von der Universität Bologna hat Sie mir empfohlen. Wir hatten damals bei dem Kolloquium zu Fragen der Parapsychologie an der Universität Bologna ein paar Worte gewechselt, vielleicht erinnern Sie sich.« Er blickte auf Clara. »Und das ist meine Kollegin, Hauptkommissarin Clara Vidalis.«
Don Alvaro gab beiden die Hand, während er Clara aus seinen blauen Augen, die in eigentümlichem Kontrast zu seinem dunklen, südländischen Gesicht und seinen weißen Haaren standen, aufmerksam musterte.
»Sind wir Landsleute?«, fragte er.
Clara lächelte. »Das könnte sein. Ein Teil meiner Familie kommt aus Alicante, der andere aus Italien.«
Alvaro lächelte. »Meine Familie stammt aus Sevilla. Haben Sie mal gesehen, wie man da Ostern feiert?«
Clara nickte. »Lebendiger als bei uns in Deutschland.«
»Weniger lebendig ginge es auch kaum. Und der andere Teil Ihrer Familie kommt aus Rom, sagten Sie?«
»Ja«, antwortete Clara. »Meine Urgroßeltern lebten in Trastevere, nicht weit von hier.«
»Trastevere«, sagte Alvaro versonnen. »›Jenseits des Tibers.‹ Früher war das abfällig gemeint, heute ist Trastevere eines der angesagten Viertel. Alle wollen dorthin.« Er lächelte. » Tempora mutantur, nos et mutamur in illis. Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns mit ihnen. Das, was einst ein Schimpfwort war, ist etwas Begehrenswertes geworden.«
»Wie lange leben Sie schon in Rom?«, fragte Clara. Don Alvaro war ihr auf Anhieb sympathisch.
»Vierzig Jahre. Dann kann man, wenn es um Rom geht, von wir sprechen und sich selbst als Römer sehen. Kommen Sie bitte mit.«
Clara und MacDeath folgten Alvaro zum Altar, wo er das weiße Tuch zusammenfaltete und behutsam über den Abendmahlskelch legte. Dann brachte er die Messe-Utensilien in einen Nebenraum. »Aber Sie sind sicher nicht gekommen, um über Rom zu sprechen«, wandte er sich dann wieder seinen Besuchern zu. »Ich denke, das Ganze ist unerfreulicher, nicht wahr?«
Clara nickte. »Wenn wir so intensiv an etwas dran sind, ist es in den seltensten Fällen erfreulich.«
Alvaro schloss die Tür zur Sakristei und nickte. »Das haben wir gemeinsam.«
»Sie meinen den Kampf gegen das Verbrechen, das Böse?«, fragte Clara, als sie – Don Tomasso Tremonte an der Spitze – den Hof überquerten, auf dem Statuen der Jungfrau Maria und des heiligen Hieronymus standen. Hier und da blühten vereinzelte Blumen, die ersten Vorboten des Frühlings.
»Ja. Und ich werde diesen Kampf führen, solange Gott es will«, antwortete Alvaro ernst und öffnete die Tür, die zum Nebenhaus nach oben führte.
»Und was ist mit dem Ruhestand?«
»Ruhestand? Vom Staat bezahltes Sterben?« Er kniff ein Auge zu, ehe sie durch einen dunklen Korridor eine Treppe hinaufstiegen. »Nichts ist mit Ruhestand. Ich bin auf Erden, um Gott und den Menschen zu dienen und nicht, um die Füße hochzulegen.« Er schaute Clara an. »Schließlich bekämpfen wir beide das Böse, und dieser Kampf wird niemals enden.«
»Und wir Ermittler wissen oft nicht einmal, wer der Täter war, noch wann die nächste Tat geschieht«, entgegnete Clara.
Alvaro nickte. »Es kann beängstigend sein, nicht alles zu wissen, nicht wahr? Umso beruhigender ist es, dass es jemanden gibt, der alles weiß.« Er schaute sie an. »Gott weiß, wann und wie Sie sterben. Er weiß es jetzt schon, hat es immer schon gewusst. Beunruhigt Sie dieser Gedanke, Frau Vidalis? Oder gibt er Ihnen Sicherheit, weil Sie wissen, dass Gott immer bei Ihnen ist, auch im Augenblick Ihres Todes?«
Clara kam nicht dazu, dem alten Priester zu antworten, denn er öffnete bereits die Tür.
»Kommen Sie mit«, sagte er. »Ich denke, wir haben viel zu besprechen.«
25
Als Erstes nahm Clara den Geruch von Weihrauch wahr. Dann sah sie eine große Holzstatue Marias an der Stirnseite des Raumes, die das Jesuskind auf dem Arm hielt und an deren Finger ein Rosenkranz hing. Bücher unterschiedlichen Alters, einige davon verbogene, wurmstichige Folianten, stapelten sich auf wuchtigen Eichenholzregalen bis zur Decke. Auf einer Anrichte stand eine brüchige schwarze Ledertasche. Daneben ein kleines Büchlein, ein weiterer Rosenkranz, ein Kreuz und eine silberne Schatulle, mit der
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