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Seelenangst

Seelenangst

Titel: Seelenangst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veit Etzold
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Er warf Don Alvaro einen vielsagenden Blick zu.
    »Der Drache«, sagte Alvaro und nickte. »Auch der Drache kommt in der Offenbarung vor. Er greift Maria an, um ihr Kind zu fressen.«
    Seine Finger glitten erneut über die Zeilen, als er wieder aus der Bibel vorlas: »Und es erschien ein Zeichen am Himmel: ein Weib, mit der Sonne bekleidet, und der Mond unter ihren Füßen und auf ihrem Haupt eine Krone von zwölf Sternen. Und sie war schwanger und schrie in Schmerzen des Gebärens. Und es erschien ein anderes Zeichen am Himmel, und siehe, ein großer, roter Drache, der hatte sieben Häupter und zehn Hörner und auf seinen Häuptern sieben Kronen; sein Schwanz fegte den dritten Teil der Sterne vom Himmel und warf sie auf die Erde. Und der Drache trat vor das Weib, die gebären sollte, um, wenn sie geboren hätte, ihr Kind zu fressen.«
    Clara spürte, wie ihre Augen feucht wurden. Das Kind, das gefressen wird. Wann immer sie so etwas hörte, musste sie an ihre kleine Schwester Claudia denken.
    Don Alvaro bemerkte ihren Blick, sagte aber nichts.
    »Das wäre dann eine folgerichtige Interpretation«, sagte MacDeath. »Er nennt sich ›Der Drache‹ und identifiziert sich mit dem Drachen aus der Offenbarung, der das Kind Mariens fressen will. Und sein erstes Opfer ist symbolisch der Christus der Apokalypse, dem das Schwert aus dem Mund ragt.«
    »Doch in der Offenbarung«, meldete Tomasso sich zu Wort, »beschützt der Erzengel Michael die Mutter und das Kind und wirft den Drachen, der der Teufel ist, in den Abgrund.«
    »Das Ganze ist ein unendlicher Kampf«, sagte Don Alvaro. »Die Frau gegen den Drachen, Jesus gegen den Satan, Jerusalem gegen Babylon, der Teufel gegen das Lamm.«
    MacDeath nahm die Phantomzeichnung aus der Akte, die Polizeipsychologen und Zeichner auf der Basis der Beschreibung des kleinen Lukas erstellt hatten. Sie zeigte den Mann, der Lukas den USB-Stick übergeben hatte – den Mann mit dem schwarzen Mantel, dem hageren Gesicht und der schwarzen Brille.
    Alvaro betrachtete das Bild eine Zeit lang. »Meinen Sie, er ist es? Der wahre Mörder?«
    Auch Tomasso beugte sich vor und betrachtete das Foto aufmerksam.
    »Jedenfalls weiß er mehr über die dunklen Geheimnisse seiner Opfer als alle anderen«, antwortete MacDeath. »Aber wir wissen nicht, ob er es wirklich war. Ebenso wenig, wer dieser Mann ist. Auch Mandy Weiss konnte uns nicht viel sagen.«
    »Was hat sie Ihnen erzählt?«
    Clara übernahm. »Dass sie die Bewohner des Feuers sind, was immer das bedeuten soll. Und dass sie furchtbare Angst hat. Vor einem Mann, der offenbar in ihrem Kopf ist.«
    »Bewohner des Feuers«, murmelte Don Alvaro. »Von denen habe ich schon einmal gehört. Eine Kultvereinigung. Ziemlich klein, aber überaus gefährlich.«
    »Gibt es mehr Informationen über diesen Kult?«, fragte Clara.
    Don Alvaro schüttelte resigniert den Kopf. »Nur das, was ich eben gesagt habe. Aber was ist mit dieser jungen Frau passiert?«
    »Sie hat sich selbst die Zunge abgebissen und ist verblutet«, sagte MacDeath.
    Don Alvaro bekreuzigte sich. »Allmächtiger«, flüsterte er.
    Dann blickte er wieder auf das Phantombild. »Er trägt diese Brille, um seine Augen zu verbergen«, sagte er.
    MacDeath nickte. »Das könnte eine symbolische Bedeutung haben. Vielleicht glaubt er, mit seinen Augen sei irgendetwas. Manche Schizophrenie-Patienten glauben, sie hätten Augen aus Feuer, die sie vor der Welt verbergen müssen.«
    Don Alvaro nickte. »Es könnte sein, dass auch dieser Mann so etwas glaubt. Es könnte aber auch sein, dass er irgendetwas mit seinen Augen angestellt hat. Etwas, das die anderen nicht sehen dürfen.«
    »Oder von dem er glaubt , dass es die anderen nicht sehen dürfen«, warf Clara ein.
    »Ich habe solche Fälle schon gesehen«, sagte Don Alvaro. »Vielleicht glaubt er, dass er abgrundtief schwarze Augen hat. Oder Raubtieraugen. Dass er ein Dämon ist. Oder dass er …«, seine blauen Augen ruhten auf Clara, »dass er sehen kann, was andere nicht sehen. Dass er in andere Welten und andere Sphären schauen kann. Dass er anders sieht als die anderen. Mit anderen Augen. Oder mit gar keinen Augen. Jedenfalls glaubt er das.«
    »Dann könnte es sein, dass er sich in dem Moment offenbart, in dem er seine Opfer tötet?«, fragte MacDeath. »Dass er dann seine Brille abnimmt?«
    Don Alvaro nickte.
    »Dummerweise haben wir keine Bilder von ihm, die ihn ohne Brille zeigen«, sagte Clara. »Noch wissen wir von irgendjemandem, der

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