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Seelenangst

Seelenangst

Titel: Seelenangst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veit Etzold
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ein Zweiter.
    »Die große Öde der dunklen Wasser und heulenden Winde, wo wir lebten in vergangenen Zeiten«, hob ein Dritter mit tiefer Stimme an. »Hört die Unsterblichen und sprecht mit mir die Anrufung der Ewigen Schlange, die schläft, auf dass wir leben mögen.«
    Der Mann mit der schwarzen Brille verbeugte sich noch einmal. Dann sprach er: »Ich herrsche über euch, sagt der Herr der Erde, in dessen Händen die Sonne ein funkelndes Schwert ist und der Mond ein alles durchdringendes Feuer.« Er tauchte die Kelle in den Kessel. »Wir sind Brüder. Wir sind Schwestern. Nicht durch verwandtes, aber durch vergossenes Blut.«
*
    Das Klingeln ihres Handys weckte Clara aus einem bleiernen Schlaf. Durch das Whiskyglas hindurch, das auf ihrem Nachttisch stand und in dem noch ein halber Fingerbreit Alkohol war, sah sie die Uhr. 5.40 Uhr.
    Mit einem Mal war der gestrige Abend wieder vor ihrem inneren Auge, wie eine grelle Bühne, die der Vorhang des Schlafes nur kurz verdeckt hatte, der jetzt mit brutaler Kraft zur Seite gerissen wurde.
    Das ist keine Drohung, hatte Mandy gesagt. Das ist ein Versprechen.
    Nach diesen Worten war Mandy wie zu Stein erstarrt, hatte sich nicht mehr bewegt, nichts mehr gesagt.
    War Clara in Gefahr? In ihrem Job war sie immer gefährdet, aber die Drohung Mandys – auch wenn sie aus dem Mund einer schwerst traumatisierten und auf irgendeine Weise fremd gesteuerten Frau kam – hatte gereicht, dass sie drei Whisky hatte trinken müssen, um einschlafen zu können. Entsprechend fühlte sie sich jetzt nach nur vier Stunden Schlaf und dem Alkohol. Sie hoffte, dass ihre Stimme nicht allzu rau und versoffen klang, als sie den Anruf entgegennahm. Es war eine Berliner Nummer.
    »Vidalis.«
    »Marquard am Apparat. Tut mir leid, wenn ich Sie geweckt habe, aber es ist wichtig.«
    Die Anstalt, dachte Clara. Bonnys Ranch.
    »Was ist denn los?«, fragte sie alarmiert.
    »Mandy ist tot.«
    Die Worte Marquards ließen sie erstarren.
    »Tot?« Sie wechselte das Handy an das andere Ohr und setzte sich aufs Bett. »Wie ist sie gestorben? War jemand in ihrer Zelle?«
    »Suizid«, sagte Marquard tonlos.
    »Selbstmord? Aber sie trug doch diese Zwangsjacke. Außerdem hatte sie keine spitzen Gegenstände, die Wände der Zelle waren gepolstert, und sie wurde fast ausschließlich mit Flüssignahrung versorgt. Sie konnte doch nicht …«
    »Flüssig«, sagte Marquard. »Das ist der Punkt.«
    »Wie meinen Sie das? Was ist passiert?«
    Marquard antwortete nicht sofort, als müsse er zuvor seine Gedanken ordnen. Draußen war noch pechschwarze Nacht, und das penetrante Geräusch des Regens machte diesen frühen Morgen zusammen mit der filzigen Dunkelheit zu einem Gesamtkunstwerk der Monotonie.
    »Mandy hat die letzten Tage über starke Kopfschmerzen geklagt«, sagte Marquard schließlich. »Wir haben ihr deshalb Medikamente auf Acetylsalycilsäure-Basis verabreicht. Sie wissen schon, der Wirkstoff, der auch in Aspirin enthalten ist. Er hat neben der schmerzstillenden auch eine blutverdünnende Wirkung.«
    »Ja, und?«, fragte Clara verwirrt.
    »Es ging leider nicht um die Kopfschmerzen«, antwortete Marquard. »Es ging um die blutverdünnende Wirkung. Sie hat die Tabletten gebunkert. Irgendwie ist es ihr gelungen, sie vor uns zu verbergen. Und dann hat sie die Tabletten alle auf einmal eingenommen.«
    »Ist sie daran gestorben?«, fragte Clara betroffen.
    Blutverdünner. Das Blut gerinnt langsamer und fließt schneller. Und es fließt mehr …
    »Das war nicht die unmittelbare Ursache«, antwortete Marquard.
    »Sondern?«
    »Sie hat sich die Zunge abgebissen.«
    Das Bild Mandys erschien vor Claras Augen, als Marquards Worte in ihrem Kopf widerhallten.
    »Sie hat eine Nachricht hinterlassen«, fuhr der Psychologe fort.
    »Eine Nachricht? Wie konnte sie schreiben, wenn sie gefesselt war?«
    »Sie hat die Nachricht mit ihrem Blut geschrieben«, antwortete Marquard tonlos. »Bevor sie sich die Zunge ganz abgebissen hat.«
*
    Eine Viertelstunde nach dem Telefonat traf Clara in der Anstalt ein. Der Pfleger, der Mandys Leiche als Erster gesehen hatte, befand sich in stationärer psychologischer Behandlung.
    Mandy lag fixiert neben dem Bett, noch immer in der Zwangsjacke. Der Mund war nur noch ein schwarzes, blutiges Loch, und auf dem Boden neben ihr lag etwas, das wie ein kleines rohes Steak aussah.
    Und um sie herum war Blut. Auf dem Boden. Auf dem Bett. Auf der Zwangsjacke. An der Wand.
    Und dort stand, in Blut geschrieben, der

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