Seelenasche
Zellen Geschlecht und Stimme, und die Hennen legten missgebildete Eier. Drinnen röche es nach Zersetzung, nach Abdeckerei; alles Natürliche sei in erniedrigender Weise reduziert auf schnelle Fleisch- und Eierproduktion. Er wolle darüber einen Artikel für das Werktätigenblatt schreiben.
»Die Menschheit hat sich in einen gewaltigen Wanst verwandelt«, versuchte der Gottgesalbte sich selbst zu überzeugen, »in Milliarden gezahnte Münder, die die Erde abfressen wie einen Kohlkopf. Erst haben wir die wilden Tiere ausgerottet, jetzt züchten wir die Haustiere zu Tode.«
»Aber essen müssen wir doch«, meldete sich Emilia mit übertriebenem, gut gespieltem Schrecken. Er beachtete ihren Zwischenruf selbstverständlich nicht. Rot vor Zorn, war Sotirov nichts als Selbsthass. Ja, er war gekommen, um sich vor Publikum seinen Selbsthass vorzuführen. Vermutlich kam er mit der Inszenierung des Jaworov-Stücks nicht zurecht. Aber fragte vielleicht einer, ob dieser Tag für Emilia leicht war? Sie hatte Ãrger im Theater. Das Fernsehen hatte die Produktion eines Drehbuchs gestoppt, mit dem sie fest gerechnet hatte. Ihre Tochter tat zehn Sachen auf einmal, sodass einem schon beim Betreten ihres Zimmers schwindlig wurde. Und Assen hatte seine Bücher genommen und sich ins Wochenendhaus nach Simeonowo verzogen. Alle hatten sie wie auf Verabredung verlassen, waren einfach nicht da. Physisch jedenfalls, denn in ihrem Kopf hatten sie sich fest eingenistet und stieÃen darin aneinander wie Billardkugeln.
Ihre Schläfen pochten. Diese Farmhühner interessierten Emilia nicht im Geringsten. Da sie keinerlei Geschmack hatten, kaufte sie die ohnehin nicht. Sie war überzeugt, dass die Probleme der heutigen Zivilisation sich nicht einmal in der Spanne eines Menschenlebens lösen lieÃen, geschweige denn durch einen Zeitungsartikel. Sotirovs Verärgerung drohte, sie aus dem Konzept zu bringen.
»Entschuldige«, sagte sie mit fester Stimme, »aber in einer Stunde habe ich Probe.«
Sotirov fuhr zusammen, starrte sie nicht-sehenden Auges an, dann erschien ein Funken Verstand in seinem Blick. Proben â ja, das sagte ihm etwas, das kannte er! Und plötzlich wurde ihm seine Egozentrik bewusst, und er errötete.
»Ich war im Park spazieren ⦠Und da dachte ich, vielleicht leistet Akademieprofessor Weltschev meiner Einsamkeit Gesellschaft; aber wie ich sehe, ist er nicht da.«
Emilia geleitete ihn erleichtert zur Tür. Sie besprengte ihr Gesicht im Bad und legte Rouge nach. Ihr Lächeln war traurig und menschlich. Im Flur stieà sie an das Schuhschränkchen, stöhnte auf, schubste die Schuhe ihrer Tochter zur Seite und betrat das Arbeitszimmer Assens.
Das erwartete Bild! Dessislava saà vor der Schreibmaschine, zu ihrer Linken ein Teller mit Biskuits und ein Haufen beschriebener Blätter, vor ihr aufgeschlagen die Zeitschrift Kosmos , in der ein paar abstoÃende Dinosaurier abgebildet waren, darauf standen ein Fläschchen Nagellack und eine Tasse Tee. Rechts türmten sich die Dramen Shakespeares, ein Döschen Analgin, der Topf mit der Suppe von gestern und ein Küchenmesser. An einem Fuà trug ihre Tochter einen Strumpf, der andere war nackt. Wie Emilia erwartet hatte, strickte sie. Der Wollfaden lief um ihren Hals, die Nadeln klapperten zwischen ihren Fingern. Man wurde den Eindruck nicht los, Dessislava stricke sich den zweiten Strumpf.
»Ich brauch fünf Leva für ein paar Blümchen«, lachte sie freundlich, »bin heute Abend zu Bobby nach Hause eingeladen.«
»Wie geht es mit dem Hamlet voran?«, fragte Emilia, um Zeit zur Konzentration zu gewinnen.
»Bewegt sich im Rahmen des Normalen ⦠Im Moment versuch ich, Hamlet das Trinken abzugewöhnen. Und Ophelia den Diätwahnsinn. Stell dir vor, sie isst nur Brühe oder Reis mit Joghurt.«
Sie war es gewesen, die Dessislava ermuntert hatte, sich doch den Hamlet vorzunehmen â dieses in ihrem Leben so bedeutsame Stück, auf das sie sich minutiös vorbereitet und in dem sie nie gespielt hatte. War ihr eigenes Scheitern der Grund, dass sie so hartnäckig blieb? Wollte sie unbewusst auch Dessislava scheitern sehen? Emilia spürte, wie ihre Lippen trocken wurden, ihre Hände verräterisch zu zittern begannen. So groà ihre Erfahrung als Schauspielerin auch war, hier und jetzt hatte sie sich einfach nicht unter Kontrolle. Sie musste sich
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