Seelenasche
Aufmerksamkeit auf das Thema der Sendung und bedeckte es mit diffusen Formulierungen, so wie ein Gärtner Rosen mit Heu bedeckt, um sie vor dem Erfrieren im Winter zu schützen. Auf der »Wohnzimmerbühne« glich Jordan einem Fotomodell, das Reklame für Männerzeitschriften machte. Fehlte nur die Flasche mit dem Single-Malt-Whisky oder die Schachtel mit den Davidoff-Zigaretten, hinter ihm vielleicht eine Abenteuerlandschaft mit wildem Wasserfall, eine einsame Hochgebirgslandschaft oder eine Wüste in der Glut der Abenddämmerung. Jordans Lächeln aber blieb sich gleich. Freundlich, aufmunternd, glücklich; dabei eigentlich so leer wie eine StraÃenbahn auf dem Weg ins Depot. In diesem Lächeln lag die Selbstsicherheit des erfolgreichen, satten Menschen, der die Prosperität der ganzen Menschheit verkörperte, jedenfalls der des »entwickelten Sozialismus«. Das Bildschirmgesicht ihres Bruders war ein Paradiesapfel, kandiert mit Unwiderstehlichkeit, eingeschlagen in die schimmernde Transparentfolie der Berühmtheit. Alle ihre Freundinnen mochten Jordan, wollten aber nicht mit ihm schlafen, sondern ihn nur kennen!
Das Licht drauÃen blitzte scharf und hart wie eine rostfreie Messerklinge, glatt wie das polierte Blech einer Rutsche. Dessislava liebte den Winter, weil man sich dann dick anziehen konnte. Der leichtbekleidete Sommer hingegen forderte Trägheit und Begierden geradezu heraus. Realisierbare Sinnesfreuden waren keinen roten Heller wert, fand Dessislava, aber die unmöglichen taten einem gleich weh. Im Januar, wenn der Winter auf seinem Höhepunkt war, fühlte sie sich beinahe unsichtbar, so gut konnte sie sich in ihren Anziehsachen verstecken, ganz gleich, ob es sich um Designermode oder um Konfektionsware von der Stange handelte. Im Winter schaute einer Frau auch keiner in die Augen oder auf die Brust, sondern nur darauf, welchen Pelz und welche Stiefel sie trug.
Sie weinte noch immer. Langsam wurde das lustig. Die Farbe des Schnees im Hof changierte, nahm ein südliches Indigoblau an. »Der Schnee wärmt sich und schläft ein«, liebte ihre GroÃmutter zu sagen. Nur dass Jonka das längst nicht mehr sagen konnte. Dessislava hatte sie, als wäre ihr Inneres auch so eines dieser Schwarzen Löcher, in sich aufgesaugt und zum Verschwinden gebracht; schlieÃlich träumte sie noch nicht einmal mehr von ihr. Jonka hatte die alte Welt, eine Welt der einfachen Geheimnisse, mit sich genommen und sie zurückgelassen in dieser neuen, schwierigen und konformistischen Welt der groÃen Gleichheit und der kleinen Erfolge. Und nun kam ihre Mutter auch noch mit dieser tollen Neuigkeit an â¦
Ihre »Freude« war inzwischen so beklemmend geworden, dass sie das Gefühl hatte, sie könne jeden Moment durchdrehen. Nein, sie würde am Abend nicht zu Bobby gehen! In dem Zustand, in dem sie sich befand, würde es ihr gewisse Probleme bereiten, sich wie ein männermordender Vamp zu benehmen. Wenn ihre Oma jetzt da wäre, würde sie den verhassten Fernseher einschalten, auf den bunten Jahrmarkt der modernen Eitelkeiten schauen und aufseufzen: »Ich kann nicht mehr an die Sintflut glauben. Warum sollte Gott alles Leben auf der Erde vernichten, wenn das die Menschen doch selbst ununterbrochen tun?«
Dessislava und Jonka blieben allein. Unablässig. Als wäre dies geteilte Glück, diese geteilte Bürde ihr Los. Man überlieà sie sich selbst, als seien sie dressierte Haustiere. Ihr Vater, ihre Mutter und ihr Bruder hatten ununterbrochen zu tun, hatten nie Zeit, während ihre Oma frei war wie die Liebe. Sie war es, die ihr die Vorzüge der Einsamkeit zeigte, deren wichtigster es war, dass sie im Unterschied zu allen anderen Zuständen nie an ein Ende gelangte. Jonka erzählte ihr von der unsichtbaren Seite der Dinge, von den verborgenen Verbindungen zwischen ihnen. »Für jede Pflanze gibt es die passende Krankheit«, erklärte sie mit ihrer Märchenerzählerstimme. »Und für jede Krankheit gibt es den passenden Menschen!« Wenn sie dann eindöste, versuchte Dessislava, sie aufzuwecken, weil sie Angst hatte so im Halbdunkel des Zimmers, doch sie war zu zaghaft für Jonkas Schlaf, zu klein für ihre im Schlaf weit geöffneten Augen, in denen man vermeinte, die Donau flieÃen zu sehen oder besser gesagt: die Wasser einer rätselhaften, fernen und aus den Gedächtnissen der modernen Leute
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