Seelenasche
mehr Kontur verhalf. Ohne seinen Assistenten würde Sotirov die Grenzen des Möglichen überschreiten, und solch grenzenlose Vergottung zerstörte die Körperlichkeit des Idols. Dessislava ertappte sich dabei, dass sie Evtimov nicht hasste, denn wenn es so wäre, müsste sie alle Männer hassen. Sie fürchtete sich auf den Tod vor dem Gegenteil, dass sie sich nämlich in ihn verlieben könnte. Dummes Zeug, sagte sie sich, ich liebe Hamlet. Nur mein Prinz allein will nicht, dass ich mit ihm schlafe. Er will nur, dass ich ihn verstehe.
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Kahlköpfig, mit von der langjährigen Theaterarbeit ruinierten Nerven, hatte Theo Sotirovs Neigung zu Monologen sich in einen Dauerzustand verwandelt. Seine Treffen mit anderen waren nur noch Anlässe, um sein Selbstgespräch fortzusetzen. In weit ausholenden Vorträgen hatte er das Leben in seiner ganzen Vielfalt für sich erkundet und war den endlosen Windungen der menschlichen Psyche gefolgt. Der Kaffee, unberührt, war längst in der Tasse erkaltet, die bernsteinfarbenen Trauben in der Schale verbreiteten ihr flüssiges Licht, im Wohnzimmer herrschte â und das ärgerte sie maÃlos â ein wüstes Durcheinander. Die Jahre vergingen, und Emilia schaffte es einfach nicht, dieses verfluchte Zimmer aufzuräumen! Alles, was sie darin angehäuft hatte, entzog sich ihrer Macht und veränderte seinen Platz eigenständig, als probe die Dingwelt den Aufstand gegen das menschliche Subjekt! Ãberall rutschten und fielen Dessislavas oder Assens Bücher heraus oder herunter, lagen und hingen gewaschene Socken und Wäsche, standen Schminkdöschen und Parfümfläschchen im Weg. Die Sessel standen schief, die Fransen der Perserteppiche verknoteten sich. Es war zum Verzweifeln.
Zwischen den abstrakten Bildern an den Wänden und den uralten Ikonen sitzend, wurde sie jedes Mal schläfrig. Auf dem Fauteuil kullerte ihr unerklärlicherweise ein Wollknäuel entgegen, auf dem Beistelltisch häuften sich Aschenbecher und kaputte Feuerzeuge, alte Zeitungen und eine aufgeschlagene deutsche Strickmusterzeitschrift. Vor kurzem hatte sie von Mahmud, dem Zigeuner, eine Steinschlosspistole und einen Krummsäbel gekauft. In der Ecke standen Dessislavas Stiefel und ihr faltbarer Miniregenschirm. Emilia seufzte. Vor einem Monat hatte Theo ihr die Rolle der Mila in Jaworovs Stück Am FuÃe des Witoscha ausgeschlagen; wie erwartet, zog er es vor, die Rolle der hässlichen Margarita Lilova, inzwischen seine Ehefrau, anzuvertrauen. Warum musste er jetzt ihr Haus noch mehr durcheinanderbringen? Es war zum Heulen.
Ihr stand ein entscheidendes Gespräch mit Dessislava bevor. Wenn sie an die tröstenden Worten dachte, die sie sich zurechtgelegt hatte, kam Widerwille in ihr hoch; aber das durfte sie Sotirov nicht merken lassen. Der Anstand gebot es, ihm zuzulächeln. Was war denn Anstand anderes als eine masochistische Folgeerscheinung unserer Vernünftigkeit?, dachte sie frustriert.
Ihre Tochter schwang vermutlich gerade die Stricknadeln im Arbeitszimmer ihres Vaters. In ihrem Bestreben, der GroÃmutter zu gleichen, hatte Dessislava sich auf dem Markt Nadeln und Wolle gekauft und suchte nun Seelenfrieden im Aufreihen verquerer Maschen. Beim Stricken hörte sie Tonband, trank Tee, blätterte in Eine Woche Sofia oder las den Artikel über den Entdecker der Schwarzen Löcher, der soeben den Nobelpreis für Physik erhalten hatte. Emilia fand Dessislava undurchschaubar und garstig; sie fragte sich, wie ihre Tochter es hinbekam, so viele Dinge gleichzeitig zu tun. Am schlimmsten aber: dass Dessislava so schnell groà geworden war! Dadurch würde ihr Gespräch keines mehr zwischen Mutter und Tochter, sondern eines zwischen zwei Frauen sein. Das verstimmte Emilia nicht weniger als die Unordnung im Wohnzimmer. Zwei gleichrangige Frauen würden sich über einen und denselben Mann unterhalten.
Gerade monologisierte Theo in aggressivem Ton, wie er auf eine riesige Hühnerfarm geraten war. Er hatte sich schon immer über Pelzmäntel aufgeregt, darüber, dass die Eitelkeit der Frauen eines Tages die Wunder der Wildnis vernichten, die unersättliche Gier nach Aufmerksamkeit die Schönheiten der Natur zerstören würde. Diese Hühnerfarm aber sei etwas Ungeheuerliches gewesen. Um die Hühner möglichst rasch zu mästen, würden sie mit Fischmehl ernährt. Die Hähne verlören in den
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