Seelenasche
an etwas festhalten. Dabei sah sie sich im Spiegel und verharrte so, als habe sie neben sich den rettenden Spielpartner entdeckt.
»Dess«, überwand sie sich, »ich möchte ein ernstes Wort mit dir reden.«
Die Teilnahmslosigkeit ihrer Tochter machte sie rasend. Der Schmerz, der seit Monaten in ihrer Brust saÃ, blähte sich auf wie ein Ballon voller Bitterkeit und Ingrimm.
»Leg doch mal diese verflixten Stricknadeln weg und hör mir einen Moment zu ⦠Dein Vater und ich, wir wollen uns trennen.«
»Na, ist doch klar«, erwiderte ihre Tochter lau, »er schreibt ein Buch über die Demokratie drauÃen in Simeonowo, und du spielst in den Sandmännchen -Geschichten im Fernsehen. So wird man sich fremd.«
»Ich habe mich vielleicht nicht deutlich ausgedrückt: Dein Vater und ich wollen uns scheiden lassen!«
Endlich war es heraus. Dessislava, die plötzlich zu glauben vermochte, was sie da hörte, taumelte, hielt sich aber rechtzeitig am Stuhl fest. Mit ihren Augen passierte etwas, so als ginge hinter zwei Fenstern das Licht aus. Sie versuchte, alles auf einmal zu berühren, die feinen Lichtquadrate der Maschen, die Zeitschrift mit den vor Millionen Jahren ausgestorbenen Schreckenssauriern und das Döschen mit dem schmerzstillenden Analgin, das ihr aber jetzt auch nicht helfen würde. Sie fragte nichts. Sie schloss nur geräuschlos den einen Band Shakespeare.
»Ich glaub, ich brauch keine fünf Leva mehr«, flüsterte sie. »Ich geh nicht zu Bobby. Der ist sowieso voll der Blödmann.«
7
Immer, wenn sie traurig war, aà sie mit dem HeiÃhunger derer, die nichts zu beiÃen hatten. Zuerst verputzte sie die Biskuits bis auf den letzten Krümel, dann machte sie sich an die kalte Suppe. Trotz der hart gewordenen gelben Fettaugen war es auch um die bald geschehen. Ihr fehlte der Antrieb, um in die Küche zu gehen, obwohl der Kühlschrank voll sein musste von den Resten dessen, was die geschmäcklerischen Gäste ihrer Mutter neulich abends übrig gelassen hatten. Seit ihre GroÃmutter nicht mehr war, litten sie alle an Gastritis; eine Ausnahme bildete nur ihr Halbbruder Jordan, der schon stramm Richtung Magengeschwür marschierte. Ein Schweinekotelett! Ja, das war es, was sie jetzt brauchte. Es aà sie Fleisch, es trank sie Fleisch, mit einer ihr unerklärlichen atavistischen Gier, von der Jonka, ihre Oma, aber gesagt hatte, das sei ein seltsam dunkles Sippenkennzeichen: Wenn die Männer innerlich bis unter die Haarspitzen von Adrenalin und Aufruhr überflutet seien und ihr Verstand aussetzte, überkäme sie dieser HeiÃhunger nach Fleisch ⦠Gut, aber â sie war kein Mann!
Evtimov hatte ihr heute geschmeichelt und ihr gesagt, dass Hamlet, so wie sie ihn sehe â rätselhaft, feminin, voller unbewusstem Begehren â, ihr gliche. Ãbrigens war das, was sie da zu stricken begonnen hatte, ein Pullover, aber nicht für Hamlet, sondern für Evtimov, grob und dunkel wie seine Augen.
Mein Gott, nun weinte sie auch noch! Eine Frau von über zwanzig und weinen, was war denn das nun wieder für ein schamloses Sich-gehen-Lassen? Im Schreibtisch ihres Vaters stand eine Flasche russischen Wodkas, aber Alkoholgenuss machte sie immer unglücklich. Dabei behauptete ihr Bruder Jordan doch: »Unglücklichsein ist ein Privileg der Reichen.«
Heute Abend war er auf Sendung, und ihre Mutter würde es nicht wagen, ihm von der geplanten Scheidung zu erzählen. Sie glaubte derart an den Gott des Ruhms, dass sie dessen Kundgebungen niemals stören würde. Und das strahlendste Heiligtum des Ruhms war heutzutage eben das Fernsehen, dieses rauschende Ungetüm der MittelmäÃigkeit, Gipfel des ideologischen Schwachsinns und des menschlichen Voyeurismus, das sich aus der Langeweile der Leute speiste und sie dafür mit Illusionen oder gleich mit Stumpfsinn beschenkte.
Ich werde giftig â wie schön!, dachte Dessislava. Jordan sah eigentlich blendend aus auf dem Bildschirm ihres groÃen Farbfernsehers, einem Modell, das aus belgischen Teilen in der nordostbulgarischen Stadt Weliko Tarnowo zusammengeschraubt wurde. Ihr Halbbruder war schlagfertig, scharfsinnig und überzeugend, vor allem, wenn er über Dinge redete, von denen er nichts verstand. Seine Redelust war frappierend. Wortreich erklärte er gar nichts, stellte auch nichts in Frage, sondern zog lediglich die
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