Seelenasche
geschwundenen Zeit. »Der groÃe Fluss geht dahin, und er bleibt doch«, murmelte Jonka. »So ist es auch mit unserer Sippe, Kind. Wir sind alle beisammen, nur dass die einen eben gehen und nicht mehr hier sind!«
Dessislava rutschte zum Licht des Fensters herüber, unter dem der Nachbar aus dem Erdgeschoss seinen Wagen wusch. Im Trainingsanzug und mit wollener Skimütze auf dem Kopf badete er sein bestes Stück wie ein Baby, und das Tag für Tag, damit sein vermaledeiter Moskwitsch ja keinen Rostfleck bekam. »Man kann sein Auto auch kaputtwaschen«, sagte Jonka plötzlich aus dem Dunkel des Zimmers und krümmte sich. »So wie man auch Menschen mit übertriebener Fürsorge kaputtmachen kann.« Trotz ihres grauen Stars erblickte sie die fernsten Dinge, nicht die Maschen, sondern das Ganze, was daraus werden würde. Eines endlosen, regenreichen Abends (es hatte schon morgens zu regnen begonnen) hatte Dessislava geweint â so wie jetzt â und sie gefragt: »Warum lüg ich immer, Omalein, wo ich doch gar keine Lügnerin sein will?« Und Jonka hatte ihr mit wohlklingender Stimme erwidert: »Na, weil du dich vor dem Lügen hüten willst, Kindchen!«
8
Weil sie gerade im Schwange war, hielt sich Dessislava noch einige Maschen lang an den Stricknadeln fest; aber das Ergebnis war, dass sie das Gestrickte wieder aufribbelte und den ganzen Plunder zu Boden warf. Sie erinnerte sich an den Tag, an dem ihre Verachtung für die Männer begonnen hatte. Sie war zwölf Jahre alt gewesen, hatte ein weiÃes Kleidchen und eine groÃe Schleife im Haar getragen. Die Schleife war ebenfalls weià gewesen. Sie war ein kleines reines Mädchen gewesen, präpariert und aufgespieÃt wie ein Schmetterling von der sogenannten »sozialistischen Moral«, die als Gegenbild zur bourgeoisen Verkommenheit einen Kult seelischer Reinheit betrieb.
Und so wechselten vielleicht die Mäntelchen, Blüschen und Röckchen, aber etwas in Dessislava blieb für immer das Kind mit der weiÃen Schleife im Haar . Die Pubertät schob sie gleichsam unwillig zur Seite. Bevor sie an die Schauspielakademie kam, studierte sie bulgarische Philologie. Doch mochten sich ihre Lebensjahre auch häufen, die Reife erlangte sie nur körperlich. Dessislava hatte eines Tages dieses diffuse Rumoren in ihren Brustwarzen gespürt. Das Licht verwirrte und schwächte sie, die Dunkelheit wiederum machte ihr Angst. Sie lachte, giggelte, kicherte über alles und nichts, dann war sie plötzlich ohne Grund tieftraurig, und ihre Lügengebilde wurden geradezu atemberaubend schön. Die Rauflust der Jungs schlug um in die Furcht, sie auch nur zu berühren. Sie verwandelte sich allmählich in Begehren , ohne dies selbst auch nur im Entferntesten zu ahnen. Diese bauschigen Kleidchen, unter denen ihre Rüschenstrumpfhose hervorlugte, begannen ihr nicht nur nicht mehr zu stehen, sondern geradezu unanständig zu wirken. Etwas an ihr war künstlich und gewaltsam verkleinert. Sie sah aus wie auf einer Zeichnung festgehalten, auf der die Zeit stand, und die weder reifen noch wachsen konnte. Ja, das war sie: ein bewegliches Porträt, das alle rührte und ihre Mutter entzückte, weil man durch Dessislavas kindliches Aussehen auch sie selbst für jünger hielt.
Stunde um Stunde verbrachte sie vor dem Kleiderschrank ihrer Mutter. Dort roch es nach Parfüm und nach Theater, nach etwas, das man auszieht ⦠Ein erregender Hauch von Betrug war das, von dem sie noch nicht wusste, dass dies der natürliche Duft vieler Frauen war. Sie strich über den flieÃenden Stoff der Kleider, als seien sie aus dem Fell edler Tiere gemacht. Manchmal traute sie sich, eines anzuziehen. Dann stakste sie in hochhackigen Schuhen vor den Spiegel und betrachtete sich und kam dabei ganz durcheinander. Sie malte sich die Lippen rot, legte Rouge auf die Wangen, Lidschatten unter die Augen â Gott, wie sie in diesen Momenten schon älter sein wollte, am besten so alt wie die Witwe mit dem lila getönten Haar, die im Mietshaus gegenüber wohnte!
Sie erinnerte sich an diesen Nachmittag. Der Garten des Russischen Klubs glich einem tiefen und glatten Weiher, auf dem die Schatten der überhängenden Bäume lagen. Der warme Wind versetzte ihre Haarschleife in sanftes Flattern, und nun glich sie wirklich einem Schmetterling, der schwankte, ob er wegfliegen sollte oder nicht. Ihre
Weitere Kostenlose Bücher