Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
Vom Netzwerk:
nette Begleiterin. Na los, verschwinde!«
    Krum konnte nicht wissen, dass man vor fünfunddreißig Jahren genau so auch mit seinem Vater umgesprungen war, nur dass es damals der Bezirkssekretär Stojanov persönlich gewesen war, der, um ihn loszuwerden, ihn ins Kino geschickt hatte, den sowjetischen Propagandafilm Traktoristen anschauen, während ihn jetzt ein Erfüllungsgehilfe wegschickte, schwarze Oliven vernaschen oder Frauen mit schwarzen Strapsen aus dem Intershop, oder beides. Erstmalig überkam ihn dieses komische Gefühl, dass es nur so und nicht anders sein konnte . Er schnappte sich seine Korbflasche und ging hinaus. Er tauchte in die Nachmittagsglut ein wie in einen Fiebertraum. An der nächsten Zeitungsbude kaufte er sich das Werktätigenblatt , die Abendnachrichten , Puls und Rundschau , schlug eine Seite mit Kreuzworträtsel auf, legte sie auf die Treppe vor dem Eingang »Passierscheine« und setzte sich darauf. Während er die Zeitungen las, nahm die Kraft der Sonne ab, das Licht verlor seine Bissigkeit und warf ein mystisches Violett gegen den Abendhimmel. Es roch nach heißem Stein, nach schwerem Bau, nach Macht, nach Zitadelle , unerschütterlich. Nun wurde es drückend. Bevor der kühlende Abendhauch vom Gebirge wehte und die Konditorei an der Ecke zumachte, kaufte er sich ein im Preis herabgesetztes Mohnhörnchen vom Vortag und das letzte Käsebörek, von dem das Einwickelpapier rasch durchgefettet war. Er hatte es noch nicht ganz aufgegessen, da wurde er zum ersten Mal verhaftet. Die Polizisten schubsten ihn auf den Rücksitz ihres Lada. Im Fahrgastraum roch es nach Benzin und Armeestiefeln, die einen Gewaltmarsch hinter sich hatten. Die Karosserie des Streifenwagens und das Blaulicht auf dem Dach klapperten, wenn sie über eines der vielen Schlaglöcher fuhren. Die Beamten taten freundlich, aber das war eine freudlose, eine gefährliche Freundlichkeit. Sie fuhren Krum ins Revier des Ersten Polizeibezirks, das auf der Rakovski-Straße lag, und überstellten ihn dem Diensthabenden. Der trug ein gelbes Hemd, in dem er einem Kanarienvogel zum Verwechseln ähnlich sah, hatte stiftkurzes Haar und war schweißgebadet. Gegen Durst und Langeweile schüttete er Lindenblütentee aus der Thermoskanne in sich hinein. Er redete im Pluralis Majestatis.
    Â»Da wollen wir doch mal sehen, Genosse Marijkin, was wir auf den Stufen zum ZK zu suchen hatten … und aus welchen Gründen wir die öffentliche Ordnung gestört haben?«
    Â»Ich komme geradewegs aus Russe«, sagte Krum mit dem Gefühl, dass es nur so und nicht anders sein könne, und erzählte, wie fast alle Kinder in der Donaustadt an Atemnot, Bronchitis, Asthma oder Krupphusten litten. »An der Pforte für die Passierscheine hat man mich gebeten zu warten, bis die Sitzung von Genosse Paschov zu Ende ist«, beschloss Krum seinen Bericht mit einer Liebenswürdigkeit, die sich von nichts einschüchtern ließ.
    Der diensthabende Schutzpolizist dachte nur: Was ist das denn für ein Vollidiot? Warum das mir? Und ausgerechnet jetzt um halb sieben, wo Hitze und Schwüle sich ein Stelldichein geben?
    Â»Ja, Sie lachen, Genosse Marijkin, aber wir finden das ganz und gar nicht lustig.« Der Diensthabende fragte sich, ob er diesem Sonderling jetzt gleich ein paar schallende Ohrfeigen verpassen sollte oder erst, nachdem er seine Frage gestellt hatte. Er knabberte an seinem Daumennagel und fuhr fort: »Und was hat es mit der Korbflasche auf sich? Von den kranken Kindern in Russe zum Zentralkomitee der Partei mit zehn Litern Wein, wie?«
    Â»Ach, die«, lachte Krum so heiter, als würde dies alles erklären. »So eine bringe ich immer als Gastgeschenk mit, wenn ich bei meinem Onkel übernachte, den kennen Sie vielleicht, Professor Assen Weltschev.«
    In der Tat: Von dem hatte er mal gehört, aber in welchem Zusammenhang, verdammt nochmal? Das musste irgend so ein großer Vogel sein, keiner von denen im Rampenlicht, eher einer von den Strippenziehern im Hintergrund. Dieser Scheißkerl da vor ihm war eindeutig kein Lügner. Wenn er nun ins Fettnäpfchen trat, für nichts und wieder nichts? Er widmete sich wieder seinem Daumennagel, knabberte auf der Hornhaut und spülte sie mit einem Schluck Tee hinunter. Was da durchs offene Fenster hereinströmte, das war keine Luft, das war eine schwüle, nach verbleitem Benzin stinkende Brühe,

Weitere Kostenlose Bücher