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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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seinen Augen löste sich auf und schwebte mit dem Tabakrauch durchs Zimmer. Der Zorn wurde abgelöst von einer irrationalen, demütigen Sanftheit, Zeichen seiner ständigen und gegenstandslosen Angst.
    Â»Also Rumänien den Krieg erklären, meinen Sie?«, wiederholte er. Dann: »Ich werde über die Dienstleitung verlangt, es ist sicher wichtig. Sie können jetzt nicht hierbleiben. Warten Sie draußen, ich rufe Sie wieder herein.«
    Krum lockerte seinen Krawattenknoten, nahm seine Korbflasche und verließ mit dem Gefühl, dass es nur so und nicht anders sein konnte, das mit Jalousien abgedunkelte Büro. Er ging am Aufzug vorbei, die Treppe hinunter, winkte dem glatzköpfigen Major freundlich zu und verließ das Zentralkomitee, ohne sich umzudrehen. Nicht einfach erschüttert. Nicht einmal enttäuscht oder zorngeladen. Nein, für immer !
    Gleich am nächsten Tag reichte er ein Gesuch ein, vom Posten des stellvertretenden Parteisekretärs der Landmaschinenfabrik befreit zu werden, und zum Entsetzen aller trat er, als habe ihn der gesunde Menschenverstand verlassen, weder demonstrativ, aber auch ohne sich zu verstecken, in den bereits von der Partei geächteten Klub zur Unterstützung von Glasnost und Perestrojka in Bulgarien ein. Mitte August wurde er aus der Partei ausgeschlossen, und am 5. September, vier Tage, bevor groß und landesweit der Sieg des Sozialismus von 1944 gefeiert wurde, wurde ihm auch der Arbeitsplatz entzogen.
    Schon am 18. September wurde er, diesmal im Auftrag, nach Sofia geschickt, um die Aktionen der Protestierenden in Russe mit denen des hauptstädtischen Klubs für Glasnost und Perestrojka zu koordinieren. Dieser wurde inzwischen von der Partei als widerrechtlich, ja, staatsfeindlich betrachtet, sodass die Mitglieder im Untergrund arbeiten mussten. Man hatte ihm gesagt, er werde auf Gleis 2 ankommen, doch um keinen Verdacht zu wecken, solle er auf den nächsten Bahnsteig gehen, wo er von einer älteren Genossin erwartet werde, die einen Regenmantel über dem Arm trüge.
    Der Bahnhof roch bei seiner Ankunft süßlich nach klebrigem Schmutz und verdorbenem Gemüse, Maschinenöl und – dem unvermeidlichen Grillfleisch, nach bevorstehendem Abschied und verspäteter Ankunft. In der Tat hatte sein Zug eine halbe Stunde Verspätung. Immer noch war es drückend heiß. Erdrückend . Mit den Rolltreppen gelangte Krum in die Unterführung und wieder hinauf auf den nächsten Bahnsteig. Auf diesem dösten ein verkrüppelter Bettler und ein Bauer, der eine lebende Gans in seinem Korb hatte. In der Ferne, gleichsam thronend auf dem wolkenlosen Spätsommertag, wartete eine weißhaarige Frau mit einem bei diesem Wetter völlig absurden Regenmantel über dem Arm. Es war … Ljuba Weltscheva, seine Lieblingstante! Sie umarmten sich.
    Â»Wir spielen jetzt für dieselbe Mannschaft«, sagte Krum sanft und leise.
    Â»Für dieselbe Mannschaft«, antwortete seine Tante glücklich und tupfte sich die Augen am Mantel ab.
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    Lächelnd, aber mit auf den Mund gelegtem Finger bedeutete sie ihm, dass er besser schwieg. Mit dieser Mahnung zur Vorsicht hatte sie ihn schon beim ersten Mal begrüßt, als sie ihn vom Bahnhof abholte und zu sich nach Hause brachte. »Wenn Alexander, mein Mann, erfährt, womit ich mich beschäftige, lässt er sich sofort scheiden. Und mein Vater erst … der zerreißt mich in der Luft.« Ja, Mitgefühl für leidende Kinder und ihre Mütter und der Versuch, bürgerschaftlich dagegen anzugehen, waren zum Staatsverrat avanciert, von dem niemand wissen durfte. Immerhin kam Krum sie nun immer häufiger besuchen, bis »die Sonne der Demokratie über Bulgarien aufging«, wie sich sein Vetter Christo mit bitterer Ironie ausdrückte, und das Komitee sinnlos wurde und sich umbildete in die Föderation der Klubs für Demokratie , die in der UDK aufgingen.
    Als sie ins Wohnzimmer kamen, saßen dort vor dem Farbfernseher der alt gewordene Akademie-Professor Kotzev und Alexander Weltschev. Sie schauten eine Übertragung derselben Demonstration, um die Krum ängstlich, aber beharrlich herumgestrichen war. Das Raunen der Menge war zu hören, in dem die Worte der Redner untergingen, sodass nur Wut und Emphase vermittelt wurden, die die Luft über dem Platz vor dem alten Zarenschloss zu kondensieren schienen. Der Professor trug einen

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