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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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die Heizung. Dreckig war es auch; das Theater hatte wohl auch kein Geld für eine Putzfrau. Auf dem Boden lagen zerknüllte Eintrittskarten, Bonbon- und Kaugummipapierchen, sogar die aufgerissene Packung eines Präservativs. Zwei Plätze neben ihr stand noch eine verwaiste Schachtel mit einem Rest Popcorn. Da gehen Leute also ins Theater und fressen Maiskörner wie die Schweine, dachte Dessislava. Wo hat es so was schon mal gegeben? Dann fiel ihr auf, dass sie selbst gerade an einem Schokoladenriegel lutschte, und sie wurde rot. Sie beschloss trotzig – und sagte so laut, dass es jeder hören konnte –, sie wolle fortan von ihrer größten Schwäche, der Schokolade, lassen. Die Geschäfte waren ohnehin nach der Wende wie auf geheimen Befehl ratzekahl leergefegt. Was konnte sie da, um ihren Glauben an »die nächste strahlende Zukunft« zu stärken, anderes tun, als nicht zu brauchen, was es nicht gab? An den Demonstrationen der Opposition teilnehmen, abnehmen, gewaltlos Solidarität zeigen mit der samtenen Revolution.
    Um etwas zu essen für sich und ihre Kinder zu finden, standen die Leute um vier, fünf Uhr morgens auf und reihten sich in der Kälte in die Schlangen vor den Bäckereien ein, standen um Öl, Eier, Fleisch oder Suppenknochen an. Mit etwas Glück fand man irgendwo noch eine Tube Zahnpasta der Marke Ideal, höchst irdische Seife mit dem überirdischen Namen Fee; eines Morgens fand Simeon an einer Zeitungsbude Damenstrümpfe türkischer Produktion und kaufte ihr gleich zehn Paar von zweifelhaftem Blau. Maja war zu faul, um so früh aufzustehen, und war dadurch in dieser allgemeinen Mangelsituation direkt vom Hungertod bedroht. Da kam ihr die Idee, zu einer ehemaligen Mitschülerin nach Krivodol zu fahren, wo sie die Regale des örtlichen Koop-Geschäftes leerte und in zwei Säcke füllte: Schafskäse in großen Blechdosen, Fischkonserven, Halwa und das letzte unangebrochene Gebinde Schokoladentafeln, die sie schwesterlich mit Dessislava teilte.
    Nun also lutschte sie frierend und mit laufender Nase, aber glücklich an einem Schokoladenriegel. Ihre Zehen waren so eiskalt geworden, dass sie sie kaum noch spürte. Sie saß auf dem ersten Rang in der zweiten Reihe, weit entfernt von den Ehrengästen und Claqueuren um das Regiepult, die die vordere Hälfte des Parketts füllten. Im staubigen, mütterlichen Halbdunkel des Armeetheaters lief die Generalprobe zu Warten auf Godot . Auf diesen Godot hatten sie so lange gewartet, dass sie das Stück eigentlich gar nicht zu lesen brauchten: Er hatte mehr als genug Zeit gehabt, sich ganz von allein zu inszenieren als gewaltiges und besorgniserregendes Nichtereignis, als öde Abwesenheit jeder Gegenwart. Dessislava hatte den Verdacht, dass er nie kommen würde. Es war einfach zu spät, ein für alle Mal zu spät.
    Von dem Text Becketts ging nun eine schwatzhafte Schlaffheit aus, die vielfach eher müde als neugierig machte. Wäre das Stück vor der Wende inszeniert worden, wären die Karten auf fünf Jahre im Voraus ausverkauft gewesen; jetzt aber, davon war Dessislava überzeugt, würde das Theater leer bleiben. Die Generalprobe lief nun schon über drei Stunden und vermittelte nichts als Langeweile. Das würde die anwesenden Snobs nicht daran hindern, begeistert zu applaudieren, wenn die letzte Vorstellung vor der Premiere irgendwann doch einmal zu Ende sein sollte. Für Menschen, die in einer Welt lebten, die noch absurder war als die Welt dieses Stücks, dafür aber real, gab es keinen Grund, sich für Godot zu erwärmen. Elendsgestalten wie Wladimir und Estragon sahen sie inzwischen jeden Tag zu Hunderten durch die Straßen schlurfen und in Mülltonnen nach Essbarem wühlen.
    Simeon aber war wirklich großartig. Er war ganz in seinem Element, spielte so lebendig und überraschend, als ob die Aktionen seiner Figur wirklich Sinn hätten. Sie würde von ihm träumen, wie er mit der Peitsche auf der Bühne stand, ein Dompteur, der die Allgegenwart und Unbeugsamkeit von Gewalt und Macht demonstrierte, gekrümmt in die masochistische Dimension des Genusses an der Aggression gegen sich selbst, der intimen Seite der Gewalt. Ja, wenn sie hier nicht starb vor Kälte, würde sie von ihm träumen. Nach dieser hier hatte sie nur noch drei Tafeln Schokolade der Marke ZOO, eine mit einem Löwen drauf, eine mit einer Giraffe,

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