Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
Vom Netzwerk:
Wunsch, das Gesehene zu vergessen. Auf einmal spürte sie die geballte Müdigkeit nach vier Stunden absurdem Theater. Behutsam zog sie die Tür zu.
8
    Der Abend roch nach Frühling, nach Holzöfen und Ruß, nach aufgetautem Boden und erwachendem Leben – »nach Veränderung und blühender Demokratie«, wie sie sich pathetisch einredete, aber die Luft war noch immer schneidend kalt, und so schloss Dessislava das Fenster wieder. Sie schaltete das Licht ein, um die Uhrzeit ablesen zu können. Es war sechs Uhr abends. Bis neun Uhr würde es heute Strom geben. Wie hatte doch ihre Großmutter Jonka immer gesagt: »Leider, Kindchen, bescheint das Kunstlicht nur die Leere und die toten Gegenstände, erhellt aber nicht das Dunkle im Menschen.« Noch vor einem Jahr hatte Bulgarien Strom erzeugt und in die Nachbarländer Türkei, Griechenland und Jugoslawien exportiert; jetzt lag die Energiewirtschaft wie die übrige Wirtschaft auch am Boden. Ja, wo waren sie, die Elektrizität für die strahlende Zukunft, der lichtvolle Glaube an den dialektischen Materialismus und an die gebratenen Tauben und Koteletts, und die Deckung für die schöne Losung »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen«? Und wo war sie, die zwar langweilige, aber auch beruhigend zuverlässige Sicherheit?
    Sie lächelte, als sie bemerkte, dass sie sich in ihren Bissigkeiten wiederholte, und kippte, bevor sie sich selbst langweilig wurde, einen Schuss Cognac in ihren Tee. Sie hatte alle Kolonialwarenläden auf der Graf-Ignatiev-Straße abgeklappert: Es waren keine Spirituosen zu bekommen! Auch sie verschwunden wie auf geheimen Befehl. Sie hatte nur ein paar Flaschen angeblich fassgereiften bulgarischen Cognacs der Marke Preslav gefunden, der sündhaft teuer war. Wo war der einfache Traubenschnaps für einen Lev siebzig die Flasche, dieser durchaus trinkbare Volksbeglücker?
    Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Schnell einen Schluck aus der Tasse. Die aromatische Wärme breitete sich in ihr aus, drang in ihre Müdigkeit ein, ihren Widerwillen, immer nur sich selbst zu gleichen. Das war doch gar kein schlechter Abend? Es gab Licht, und es gab Tee mit Cognac, das waren schon zwei Extras! Sie setzte sich aufs Sofa und kreuzte die Beine unter sich; einer ihrer Füße war wie immer unbesockt. Diese »theatralische und effekthascherische Schlampigkeit«, wie ihre Mutter diese Marotte nannte, hatte weniger damit zu tun, dass ihr Vater ihr als Kind Pippi Langstrumpf vorgelesen hatte, sondern kam einfach daher, dass man doppelt so viel Zeit und Mühe aufwenden musste, um zwei Strümpfe anzuziehen, von der nötigen Konzentration gar nicht zu reden!
    In diesem Augenblick seliger Zufriedenheit hörte sie, wie die Wohnungstür ging. An den Schritten, die übertrieben laut nach »Platz da, jetzt komm ich« klangen, erkannte sie Simeon. Sie wusste, dass er noch ganz von seiner Rolle eingenommen war, dass er mit dem schiefen Lächeln Wladimirs eintreten würde, der immer noch auf Godot wartet, sich übertrieben verbeugen und sagen würde: »Hallo, Mieze, sag kurz und bündig, wie’s war.« Das konnte sie ihm gut und gern sagen. Nur eben auch etwas mehr als das. Simeon hatte sie nicht einfach nur betrogen, er hatte sie ersetzt. Das hatte sie aber nicht etwa erniedrigt, sondern erleichtert. Dessislavas Niedergeschlagenheit und Tränen kamen also nicht daher, dass sie verletzt war, gekränkt von seiner primitiven Untreue, sondern daher, wie gleichgültig sie es hinnahm. Statt Schmerz und Verletztheit empfand sie die Zufriedenheit eines Menschen, der sich endlich, endlich von einer ärgerlichen Behinderung, von Fesseln befreit hat. Beim Anblick der beiden lustvoll ineinandergekrallten Akteure hatte sie einzig und allein den ungeduldigen Wunsch verspürt, zu verschwinden – wie ein schamhafter und wohlerzogener Mensch eben, der unbeabsichtigt Zeuge des Intimlebens anderer Leute wird und nicht stören will.
    Â»Hallo, Mieze, quäl mich nicht, sag kurz und bündig, wie’s war.«
    Â»Hallo, Godot«, begrüßte sie ihn munter und schluckte ihre Tränen hinunter, »hab den ganzen Abend auf dich gewartet.«
    Â»Paunov hat uns aufgehalten mit seiner Nachbesprechung. Und?«
    Â»Du warst atemberaubend, großartig, wirklich unvergleichlich.«
    Â»Du verarschst mich auch nicht, oder?«
    Â»Nein,

Weitere Kostenlose Bücher