Seelenasche
und eine mit einem Orang-Utan. Sie beschloss, sich noch eine erlauben zu können, aber wirklich nur eine, die wirklich absolut letzte, und auch nur, damit sie genug schnelle Kohlenhydrate aufnahm, um hier in diesem Kühlschrank zu überleben mit ihrer sich anbahnenden schweren Bronchitis, und um ihren Mann nach der Generalprobe auf die Stirn küssen zu können, hinter der so gar nichts war, womit er das Stück verstehen konnte, aber eine Intuition, die sich unmittelbar in die Beckettâsche Imagination einklinkte und die Figur möglich machte, ihr Leben einhauchte.
Dessislava fragte sich trotz Sims phantastischer Leistung, warum Beckett dieses schwerfällige und überlange Stück, das den gesunden Menschenverstand und die Geduld auf eine schwere Probe stellte, eigentlich geschrieben hatte. Sie fand nur eine einzige Antwort, die sie befriedigte. Mit seiner Geburt wurde der Mensch wohl in einen erbarmungslosen, tragischen Kampf zwischen dem Leben, das er sich wünschte, und dem Leben, das sich ihm bot, hineingeworfen. Darin drückt sich die Unvollkommenheit unseres Verstandes und die Schwierigkeit jeder Einzelexistenz aus, vor allem wenn das Leben, nach dem wir streben, und das Leben, in dem wir uns befinden, gleichermaÃen von uns erdacht sind. Godot kann also nur der Tod sein, darum warten wir vom ersten Tag unseres Lebens an auf ihn. Er denkt auch ständig an uns, und er wird auch kommen, denn er kommt immer, aber nur kurz und ohne Spuren zu hinterlassen.
Neben ihm spielte Pepa Koitscheva, das neue Sexsymbol des postkommunistischen Bulgarien. Sie war eine sehr durchschnittliche Schauspielerin, doch ihre Jugend war geschmückt mit dem charmanten Sexappeal Marilyn Monroes und der plakativen Attraktivität Pamela Andersons. Im Stück gab es zwar keine weibliche Figur, doch der Regisseur hatte die umwerfende Idee gehabt, dieses Hyperweibsstück den Estragon spielen zu lassen. Die Koitscheva spielte, was sie immer spielte: das muntere, ständig von irgendwas überraschte Mädchen. Bei einem anderen, einem farblosen Stück hatte sie sich ohne die geringste Scham splitternackt ausgezogen, und das war die einzige Inszenierung, mit der das Theater Gewinn machte. In Warten auf Godot spielte sie schwach, weil sie versuchte, ihre Sprechpartie zu verstehen. Dadurch machte sie es Simeon schwer, die ganze Alogik und Absurdität seiner Rolle auszuspielen. Dessislava hatte schon vermutet, dass es so sein würde, aber dennoch auf dem Weg zum Theater einer Oma, die auf der StraÃe saà und Schneeglöckchen verkaufte, ein Bündchen abgekauft.
SchlieÃlich waren auch die letzten Dialogpassagen verklungen, die sich wie der Anfang eines neuen endlosen Stücks anhörten, und die Lampen gingen an. Dessislava blinzelte. Sie wollte Simeon sehen, bevor der Regisseur mit seiner dumpfen Analyse loslegte, ihm gratulieren und ihre Begeisterung mitteilen, die er restlos verdiente. Starr vor Kälte schlich sie die Treppe vom Rang hinunter, ging an den Seiteneingängen zum Parkett vorbei und betrat neben den Toiletten den Bühneneingang. Der Geruch nach frisch gestrichener Bühnendekoration und dem ganzen übrigen Budenzauber des Theaters schlug ihr entgegen. Sie liebte es, in die Garderoben hineinzulugen, diesem weiblichsten aller Orte, an dem alle Illusionen abgelegt wurden. Simeons Garderobe war leer. Dafür hörte sie Geräusche aus der benachbarten Garderobe, der von Pepa Koitscheva. Dessislava machte ihr Lächeln zurecht, das strahlend sein musste und ihre ganze Verehrung und Begeisterung, ihr inneres Leuchten zeigen sollte, und zupfte dann ihr SträuÃchen zurecht. Sie wollte schon anklopfen, da stieà ein Luftzug die sperrmüllreife Tür ohne ihr Zutun einen Spalt weit auf. Im Hintergrund hatte jemand mit Lippenstift ein Herz auf den Spiegel gemalt, das von einem Pfeil durchbohrt war. Genau unterhalb dieser phantasievollen Zeichnung hielt Simeon Pepa gepackt. Er hatte ihren Rock hochgeschoben, eine ihrer Brüste freigelegt und saugte daran, als schlürfe er einen reifen Pfirsich. Dessislava fuhr zusammen. Das, was sie da ungewollt sah, war nicht einfach nur hässlich oder abstoÃend; in der Umarmung der beiden Hauptdarsteller gab es etwas Barbarisches, tödlich Einsames voller Gewalt und Unausgelebtem â wie im eben gespielten Stück. Sie verstand diese vulgär-verquälte Nähe sofort. Irgendwo weckte sie ihr Mitleid und den
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