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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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seinen Nachbeben hatte Neda so traumatisiert, dass sie in beständiger, unkontrollierbarer Angst lebte. Es war in der Tat furchtbar gewesen. Ausgerechnet die Erde, die wir als sicheren Grund erfahren, begann in großen Erschütterungen zu beben. Jordan erinnerte sich gut an die elektrische Spannung, die in der Luft lag. Ein gespenstisch milchiger Schein löste sich wie Flüssigkeit in der Nacht auf. Erst dann begann der Wohnblock zu zittern, in seinen Grundfesten zu knarren und zu knirschen wie ein Kinderspielzeug; die Tür zum Flur öffnete sich von allein und stand sperrangelweit offen, der Strom fiel aus, und als das unterirdische Rumoren vorbei war, trat eine Stille ein, die einen verrückt machte, weil man das Gefühl hatte, ein Ungeheuer lauere irgendwo da draußen. Er hatte sich Jana geschnappt, Neda wollte auch etwas nehmen, vergaß aber, was, dann liefen sie hinaus, stießen im Treppenhaus mit kopflos ins Freie rennenden Nachbarn zusammen, die aussahen wie wilde Tiere, die aus einer einstürzenden Höhle flüchteten.
    Auf der Straße fanden sie bereits das ganze Wohnviertel versammelt. Die Leute lächelten gequält, zitterten unbändig und leisteten sich kleine Hilfsdienste. Manche versuchten angestrengt, zu philosophieren oder sich über ihre eigene Angst lustig zu machen – und hatten sich ausgerechnet an der allergefährlichsten Stelle zusammengedrängt, nämlich genau zwischen den Längsseiten der Wohnblocks. Jeder hielt etwas an den Körper gepresst, das ihm teuer war: eine Siamkatze, eine Kiste mit Familienerbstücken, eilig zusammengeraffte Juwelen, einen Käfig mit Papageien, einen Ordner mit Plänen, die notarielle Besitzurkunde der Wohnung, ein verstaubtes Fotoalbum, das Buch, das sie gerade lasen, die angebrochene Flasche kubanischen Rums … Einige fuhren schnell ihre Autos auf die Grünfläche nebenan in Sicherheit, ließen aber ihre Kinder stehen …
    Es war unwirtlich und kalt gewesen. Nach zwei Stunden erfuhren sie über das Transistorradio von jemandem, dass das Epizentrum des Bebens im rumänischen Vrancea lag, und erst zwei Tage später geruhte das Fernsehen, eine Reportage über die Verschütteten in Swischtov an der Donau zu senden, wo es auch Todesopfer gegeben hatte. Im folgenden Monat geduckter, stiller Erwartung, dass die Naturkatastrophe sich wiederholte, geschah etwas Ungewöhnliches: Die Leute wurden mitfühlender, menschlicher! Jonka war damals leider nicht mehr. Seine Großmutter hätte Sinn und Stunde dieser göttlichen Warnung vorausgesagt und das Mysterium dieser plötzlichen menschlichen Nähe gedeutet. »Die Sintflut, das Leid der ganzen Welt«, hätte sie vielleicht gesagt, »hat die ganze Menschheit zu einem Menschen gemacht. Und das war Noah, der von Gott Auserwählte und Erleuchtete.«
    Die Nachbeben wiederholten sich mit abnehmender Stärke, doch immer im Vorfrühling, in windigen Nächten voller Frost und einem vom Smog getrübten Himmel. Neda lebte in beständiger Angst, abonnierte die Zeitschrift Kosmos , stellte für Jana ein Horoskop und … packte diesen Katastrophensack. Jordan durfte ihn nicht einmal anfassen. Dabei war die österreichische Skireklame darauf so etwas wie ein Schlüssel zu einem schwer vorstellbaren, kleinen, aber bergenden Häuschen, in dem sie nicht einfach nur vorübergehend Zuflucht, sondern ein neues gemeinsames Zuhause finden könnten.
    Nach dem großen Erdbeben begann Neda auch mit ihrer nächtlichen Lektüre. Sie hatte panische Angst davor, im Schlaf vom Zorn der Erde überrascht zu werden, las oft bis um drei Uhr früh und kam entsprechend erst um elf Uhr morgens aus den Federn. Sie räkelte sich vor dem Spiegel, trug keinerlei Schminke auf, zog sich langsam und sorgsam an, als wolle sie dieses Kleid nun bis an ihr Lebensende tragen, und glich darin einem achtzehnjährigen Teenager. Wenn sie gutgelaunt war, sagte sie ihm noch tschau, wenn er zum Sender abschwirrte, und verschwand dann bis zum Abend. Nie tranken sie zusammen Kaffee, nie hechelten sie ihre Freunde und Bekannten durch, erörterten auch nie die Weltlage und hatten keine gemeinsamen Interessen. Manchmal dachte er, selbst den Geschlechtsverkehr machten sie eigentlich getrennt, auch wenn ihre Körper dabei ineinander verkrallt waren. Nein, seine Bilanz war nicht ganz gerecht. Es gab etwas, das sie ganz stark verband, und das war

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