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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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Ihre Freundinnen beneideten sie. Sie lud sie nach Hause ein, damit sie ihn »in echt« sehen konnten; dann ging er mit der Pralinenschachtel herum und schenkte ihnen zerstreut ein wenig geduldige Aufmerksamkeit. Ja, sein Leben glich so einer Praline, ins Gewaltige vergrößert. Wenn man darauf biss, wurde es süß. Das zu vermitteln war seine Stärke. Neda ging dagegen an. Sie schaltete den Fernseher unerbittlich aus und hielt Jana hartnäckig zum Lesen an, um ihm seine Tochter so auf hinterhältige Weise zu entfremden. Mit der Grausamkeit ihrer ganzen Liebe nötigte sie ihr Kind, lieber in ein Buch zu starren als auf den Bildschirm, wollte sie in ihm jenen Funken entfachen, darin zu versinken und im Wort, in der eigenen Vorstellung des Unsichtbaren nicht nur Erkenntnis, sondern das Glück zu finden, das Glück magischer Verbundenheit mit einer eigenen Welt.
    Der Lichtstreifen unter der Tür zum Schlafzimmer blitzte wie die Lanze eines Wächters, und nicht selten hatte er das Gefühl, wenn er die Hand danach ausstreckte, würde er sich schneiden. Wie sollte er daran mit seinem Herzen vorbeikommen? Der ganze Tag, einschließlich des Überraschungsprogramms am Abend, war ermüdend und aufwühlend gewesen; jetzt wollte er nur noch eines: eine Dusche nehmen.
    Im Bad war es sauber, hohl und weiß wie in der Seele eines Weisen. Seit er zur Fernsehberühmtheit geworden war, war es für Neda leichter geworden, seinen Sauberkeitsfimmel nachzuvollziehen. »Wie dreckig musst du sein, wenn du dich dauernd duschen musst«, warf sie ihm einmal bissig hin. Er tauchte ein in das erfrischende Rauschen des Wasserstrahls. Die Einförmigkeit der Tropfenschnüre wirkte tröstend auf ihn. Durch die Dampfwolken leuchtete der Himmel aus Latexfarbe. Das Kiefernnadelshampoo hüllte ihn ein mit seinem Duft nach abgesägten Bäumen. Der wilde Geruch nach Kiefer hatte etwas Perverses in einer so sterilen Umgebung. Der Physikprofessor hatte bei der Aufnahme etwas sehr Interessantes gesagt: »Der Mensch vernichtet die Natur, weil er glaubt, er könne sie selbst erzeugen. Die künstliche Intelligenz will ja gerade das: autark, ohne die Natur funktionieren!« Wenn man das hörte, fühlte man sich widerlich, wie ein ranziges Kotelett. Jordan spürte, wie die stickige Luft und der Schweiß sich von seiner Haut lösten, aber Abscheu und Schmerz lassen sich mit Seife nicht abwaschen.
    Er wischte mit dem Badetuch den beschlagenen Spiegel ab. Nun glich er wieder sich selbst. Sein Lächeln verbreitete Erfolg und Optimismus, glich wieder jenem gut eingelaufenen, auf Hochglanz polierten Lackschuh für den gehobenen Anlass.
    Etwas Wichtiges aber wollte und wollte ihm nicht einfallen, so sehr er sich auch anstrengte, draufzukommen. Ah ja, jetzt hatte er es: Er musste unbedingt veranlassen, dass das wackelnde Tischbein an seinem runden Tisch ordentlich befestigt wurde. Denn irgendwann – und garantiert in einer Live-Sendung – würde das Ding knicken, und vor dem verdatterten Zuschauer würde der runde Tisch die Gesprächsteilnehmer unter sich begraben wie die Sintflut.
16
    Er fuhr seine Tochter zur Schule und bekam von ihrer Klassenlehrerin zu hören, dass Jana regelmäßig zu spät zur Morgengymnastik käme. Die Lehrerin war eine junge Frau von breiter, stämmiger Schönheit und durchgeistigtem Gesicht, die jeden Tag etwas fand, das sie ihm vorwerfen konnte, da sie nur so ein wenig länger in Kontakt mit dem berühmten Moderator des Runden Tisches sein konnte, der ihr jeden Samstag ein Problem der modernen Welt näherbrachte.
    Er kochte sich zwei Eier, genau dreieinhalb Minuten, und warf das Kotelett vom Vortag fort. Völlig versackt in seinem matten Fettüberzug, erschien es ihm jetzt fast wie eine Provokation moderner Kunst. Er nahm seine morgendliche Dusche, immer auf der Hut, den Nylonbeutel, den Neda im Bad aufgehängt hatte, nicht nass zu machen. Groß wie ein Seesack, weiß wie eine Kachel und mit einem Reißverschluss, zeigte die aufgedruckte Reklame, dass er wohl einmal eine österreichische Skiausrüstung enthalten haben musste. Er war gefüllt mit warmer Kleidung für ihre Tochter, zwei Jacken für Neda und ihn, einem Wollpullover, einem Paket Zwieback, einer Flasche Zitronensaft, Streichhölzern, Taschenlampe, Beruhigungsmitteln und ein paar Schachteln Marlboro.
    Das große Erdbeben vom März 1977 mit

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